von: Pater Dr. Friedhelm Hengsbach SJ
„Hartz IV muss weg!“ heißt es bei der Linken. „Hartz IV ist im Ansatz richtig, es muss modernisiert werden“, erklärt die Rest-SPD. „Teile von Hartz IV sind verfassungswidrig“, urteilt das Bundesverfassungsgericht. „Hartz IV darf nicht sterben, wir ändern das Grundgesetz“, antwortet eine faktisch fortlebende große Koalition. „Hartz IV war erfolgreich, es wurden zwei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen“, rechtfertigen sich die Agenda-Verfechter. „Hartz IV werden die Wirkungen der Weltkonjunktur zugeschrieben“, geben die Sachverständigen zu bedenken. „Hartz IV ist Armut per Gesetz“, protestieren die Demonstranten. „Hartz IV ist Faulheit per Gesetz und erinnert mich an spätrömische Dekadenz“, ereifert sich Guido Westerwelle.
Hartz IV, mit dem wertneutralen Namen als das „Vierte Gesetz für die modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, am 1.1.2005 in Kraft getreten, ist mehr als ein Gesetz. Es ist ein marktradikales, wirtschaftliberales Denkmuster in einer arbeitsgesellschaftlichen, sozial getünchten Körperwelt, eine für die Demokratie destruktive Weltanschauung. Wieso konnte es dazu kommen? Was sind die Komponenten einer solchen Weltanschauung? Im Folgenden soll versucht werden, die politischen Absichten und Denkmuster der politischen Klasse über diejenigen, die von Hartz IV betroffen sind, den konkreten Umgang der Arbeitsverwaltung mit Hartz IV-Empfängern und deren politischen Widerstand zu beurteilen. Die von Hartz IV Betroffenen werden dabei erstens als idealtypische Adressaten des Sozialstaats, zweitens als Instrumente einer Arbeitsgesellschaft und drittens als politisches Subjekt gekennzeichnet.
1. Menschen in Hartz IV – Adressaten des Sozialstaats
Die politische Klasse, die jene als Jahrhundertreform propagierten arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Gesetze geplant und deren Ausarbeitung an externe Kommissionen delegiert hat, hatte bestimmte Vorstellungen über einen neuen Gesellschaftsvertrag zwischen dem Staat und seinen Bürgerinnen und Bürgern, die das gesellschaftliche Risiko der seit mehr als dreißig Jahre währenden verfestigten Massenarbeitslosigkeit getroffen hat.
(1) Die Mitglieder moderner Gesellschaften sind selbstbewusste, selbstbestimmte Individuen. Sie sind in der Regel befähigt, im Rahmen der ihnen gebotenen Handlungsmöglichkeiten ein eigenständiges Leben zu führen und dafür Verantwortung zu übernehmen, indem sie die Folgen ihrer freien, selbst gewählten Entscheidungen sich zurechnen lassen und dafür einstehen.
(2) Das bisher geltende zweigeteilte Regelungssystem, das die Ansprüche auf Fürsorge den Kommunen und die Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung der Arbeitsverwaltung – und damit der konkurrierenden Zuständigkeit zweier Behörden zuwies, wurde aus der Sicht der Betroffenen als nicht zumutbar und als würdelos empfunden, weil es die Bedürftigen zum Spielball der Entscheidungen zweier getrennter Verwaltungen werden ließ, die sich dabei mehr und mehr an rein finanztechnischen und betriebswirtschaftlichen Eigeninteressen orientierten.
(3) Die Arbeitslosen auf der Suche nach Erwerbsarbeit werden als Menschen betrachtet, die mit besonderen Begabungen, Fähigkeiten und Interessen ausgestattet sind, die sie als Jugendliche entdecken und als Erwachsene kultivieren und veredeln wollen. Sie haben einen berechtigten Anspruch darauf, dass die Gesellschaft und insbesondere der Sozialstaat sie dabei unterstützen.
(4) Die moderne Arbeitsgesellschaft hat gegenüber einer feudalen Gesellschaftsordnung einen tendenziell egalitären Charakter. Sie erwartet von ihren Mitgliedern, dass diese zunächst durch eigene Arbeit ihren Lebensunterhalt bestreiten, bevor sie die Hilfe ihrer Nachbarn oder der Gesellschaft in Anspruch nehmen. Im Gegenzug sagt die Gesellschaft zu, allen die arbeiten können und wollen, eine sinnvolle und existenzsichernde Arbeitsgelegenheit zu bieten.
(5) Moderne Gesellschaften sind (kapitalistische) Marktgesellschaften. Der Markt als Steuerungsform hat die traditionellen Klammern der Religion und Moral, die das Handeln der Individuen aufeinander abstimmten, abgelöst. Deshalb werden die Arbeit suchenden Arbeitslosen als kommerzielle Wesen eingestuft. Als Konsumenten, Arbeitende und als Vermögenseigentümer sind sie autonome Wirtschaftssubjekte. Auf den so genannten Arbeitsmärkten werden Fähigkeiten und Interessen der Arbeitnehmer einerseits sowie Erwartungen und Interessen der Arbeitgeber aufeinander abgestimmt. Als Wirtschaftssubjekte bieten die Arbeit suchenden Erwerbslosen Güter (Arbeitsleistungen) an, während sie Arbeitsgelegenheiten und als deren Entgelt ein Arbeitseinkommen nachfragen. Der Arbeitgeber fragt nicht einzelne Arbeitsleistungen nach, sondern die Verfügung über ein Arbeitsvermögen, das er nach eigenem Ermessen einsetzen kann. Er bietet ein Einkommen an, das seiner Meinung nach der Produktivität des angebotenen Arbeitsvermögens entspricht, die er im Fall lang währender Arbeitslosigkeit als extrem niedrig beurteilt. Auf den Märkten werden Leistungen und Gegenleistungen gemäß dem Grundsatz strenger Äquivalenz getauscht.
(6) Wirtschaftssubjekte werden als vernünftig kalkulierende Wesen unterstellt. Was ist unter dieser Chiffre zu verstehen? Eine riesengroße, öffentlich wirksame Erzählung: Jedes Wirtschaftssubjekt ist an der Maximierung des von ihm selbst definierten Nutzens interessiert. Eindeutig mess- und vergleichbar ist dieser Nutzen nicht. Allein das individuelle Subjekt kann für sich entscheiden, was ihm als nützlich erscheint. Trotzdem geht man davon aus, dass dieser Nutzen der Arbeit suchenden Erwerbslosen von sachverständigen Wirtschaftswissenschaftlern, von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitikern sowie von der Arbeitsverwaltung präzise formuliert werden kann. Die Arbeitslosen machen eine Aufwands-/Ertragsrechnung, die möglichst aus nicht mehr als zwei Variablen besteht: auf der einen Seite steht der Verlust an individueller Freizeit oder einer außerhalb des Marktes möglichen Einkommensquelle (ohne Steuern und Abgaben), dafür die Unannehmlichkeiten, eine nicht befriedigende Erwerbsarbeit übernehmen und dazu sich einem fremden Willen unterwerfen zu müssen, auf der anderen Seite steht ein Arbeitseinkommen, das einen zumindest bescheidenen Lebensstandard gewährleistet und höher ist als die Sozialleistungen, die auch ohne Erwerbsarbeit bezogen werden könnten. Die angeblich rationale Kalkulation beschränkt sich auf die beiden Komponenten: Arbeitsleid und Arbeitsentgelt.
(7) Marktgesellschaften sind Gesellschaften, die nicht in der Lage sind, bestehende Ungleichheiten der natürlichen und gesellschaftlichen Lotterie allein durch den marktwirtschaftlichen Wettbewerb zu korrigieren. Dazu ist eine rechtliche und politische Rahmenordnung notwendig, die für eine wirksame Kontrolle und Dynamisierung des Wettbewerbs, eine solide Geldverfassung, die Bereitstellung öffentlicher Güter und den sozialen Ausgleich sorgt. Deshalb ist es eine durch die Verfassung gebotene Aufgabe des Sozialstaats, den sozialen Grundrechtsanspruch von Leistungsschwachen und Bedürftigen auf ein menschenwürdiges soziokulturelles Existenzminimum einzulösen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht Anfang 2010 entschieden und das Verfahren zur Festlegung der Regelsätze von Hartz IV als verfassungswidrig festgestellt.
Der angeblich innovative Charakter der Hartz IV-Regelungen und des Leitbilds eines aktivierenden Sozialstaats besteht nun darin, dass den leistungsschwachen Bedürftigen nicht in erster Linie finanzielle Mittel für ein menschenwürdiges Leben – gleichsam ohne Gegenleistung – zur Verfügung gestellt werden. Vielmehr sollen sie in die Lage versetzt werden, sich durch die Beteiligung an der regulären Erwerbsarbeit den Lebensunterhalt zu verdienen. Die sozialwissenschaftlichen und politischen Verfechter dieses „workfare“-Sozialstaats (im Gegensatz zum welfare-Sozialstaat) sprechen von einem Vertrag auf Gegenseitigkeit und gleicher Augenhöhe zwischen Bürger und Staat, der wechselseitige Rechte und Pflichten enthält. Das soziale Grundrecht der Bürgerinnen und Bürger auf Hilfeleistungen des Staates verpflichtet diese zu einer Gegenleistung, die der Staat zu Recht einfordern kann, sobald er die Arbeit suchenden Arbeitslosen fördert. Die Gesellschaft hat die Bringschuld einer Arbeitsgelegenheit und zwar der Wiedereingliederung in den regulären Arbeitsmarkt dann und nur dann, wenn der Arbeit suchende Erwerbslose zu einer Gegenleistung bereit ist. Der Sozialstaat fordert und fördert – er bekämpft die durch Arbeitslosigkeit verursachte Armut mit dem Versuch einer Wiedereingliederung der arbeitslos Armen in die reguläre Beschäftigung.
Die Prämissen der Vertreter einer neuen Arbeitsmarktpolitik und eines aktivierenden Sozialstaats klingen auf den ersten Blick plausibel. Die Politiker, die jene daraus abgeleiteten Gesetze beschlossen haben, verteidigen sich damit, dass ihre Absichten und die Gesetze gut seien, die praktische Übersetzung durch die Arbeitsverwaltung und die Kommunen jedoch missraten. So werden Ursachen und Folgen wie auf einem Verschiebebahnhof hin und hergeleitet. Tatsächlich enthalten die Prämissen und die Gesetze selbst jene Denk- und Systemfehler, die das Verwaltungshandeln kritikwürdig machen.
Ein grober Denkfehler besteht in der Individualisierung gesellschaftlicher Risiken. Massenarbeitslosigkeit, schwere Krankheit, Altersarmut und in einer patriarchalen Gesellschaft die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht sind gesellschaftliche Risiken, deren Eintritt nicht den davon betroffenen Individuen angelastet werden darf. Der Appell an die Eigenverantwortung ist methodisch ein Fehlschluss, weil individuelle Erklärungsmuster an die Stelle gesamtwirtschaftlicher und gesellschaftlicher Analysen treten. Appelle an tugendsame, arbeitsorientierte Einstellungen laufen ins Leere angesichts von fünf Millionen registrierten und versteckten Arbeitslosen und weniger als einer Million offener Stellen.
Der zweite Denkfehler besteht darin, dass zum einen die Güter- und Finanzmärkte als logische Orte individueller Akteure mit extrem selektiven, ausschließlich monetären Interessen konstruiert werden, die dazu noch von der ursprünglichen Verteilung der Kaufkraft und vom angeblich individuellen Leistungsvermögen abhängen, und dass zum andern auf den „Arbeitsmärkten“unter atomistischen Wettbewerbsbedingungen ein Tausch individueller Akteure, nämlich des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers zustande kommt. Beide Prämissen sind idealtypisch, aber wirklichkeitsfremd. Denn tatsächlich werden die Arbeitsverhältnisse von zwei kollektiven Verhandlungspartnern vereinbart. Und vor allem ist das Arbeitsvermögen keine Ware wie ein Gebrauchtauto. Sie ist für die abhängig Beschäftigten etwas Notwendiges, weil sie darauf angewiesen sind, durch die Überlassung ihres Arbeitsvermögens an einen fremden Kapitaleigner ihren Lebensunterhalt zu gewinnen. Gleichzeitig ist sie etwas ganz Persönliches, weil das Arbeitsvermögen nicht vom Subjekt der Arbeit getrennt werden kann, weil diejenigen, die ihr Arbeitsvermögen auf dem angeblichen Arbeitsmarkt anbieten, sich selbst einem fremden Willen unterwerfen müssen.
Der dritte Denkfehler besteht in der selektiven Deutung rein monetärer Bestimmungsgrößen des Arbeitsangebots. An den physischen und vor allem sozialpsychischen Folgen der Arbeitslosigkeit kann abgelesen werden, dass ein ganzes Bündel materieller, mentaler und gesellschaftlicher Motive die Arbeitslosen dazu anleitet, sich an der gesellschaftlich organisierten Arbeit zu beteiligen. Der Wunsch nach einer guten Arbeit, die ein angemessenes Einkommen bietet, die sicher ist und eine Lebensplanung in gelingender Partnerschaft erleichtert, die gesellschaftliche Anerkennung vermittelt und zur Entfaltung der eigenen Kompetenzen beiträgt, hat etwas mit der persönlichen Würde derer zu tun, die arbeiten. Es ist einzusehen, dass ein arbeitsloser ausgebildeter Ingenieur eine Arbeitsgelegenheit beispielsweise als Hausmeister eines Krankenhauses akzeptiert, nicht jedoch als Garten- und Blumenpfleger in derselben Einrichtung.
Der vierte Denkfehler liegt in dem höchst fragwürdigen Maßstab der Produktivität, dem gemäß das wirtschaftliche Leistungsvermögen eines Arbeit suchenden Arbeitslosen, aber auch der meisten Erwerbstätigen ermittelt wird. Die gesellschaftlich höchst bedeutsame Leistung einer Person, die privat Kinder erzieht, den Haushalt besorgt und Kranke pflegt, gilt nicht als wirtschaftliche Leistung, wohl aber das Zählen von Banknoten eines Sparkassenangestellten. Wirtschaftliche Leistung wird definiert durch die Kaufkraft derer und ihre ursprüngliche Verteilung unter denjenigen, die eine solche Leistung nachfragen. In einem gemeinsamen Produktionsprozess kann der Anteil der einzelnen Erwerbstätigen an dem Endergebnis ihrer Arbeit eh nichtpräzise zugerechnet werden. Deshalb sind manche Formen der Entlohnung, die unter Druck einer Seite zustande kommen, rechtswidrig. Das gilt in der Regel für die 1 Euro-Jobs.
Ein fünfter Denkfehler besteht in dem Ausblenden von Marktmacht. Die moderne Arbeitsgesellschaft hat das Erbe der Feudalgesellschaft nicht abgestreift. Die Bauernbefreiung hat den Leibeigenen die freie Wahl des Wohnorts, der Partnerin und des Arbeitgebers beschert, aber auch den Verlust ihrer Existenzgrundlage. Die Feudalherren wurden jedoch nicht von ihrem Grund-, Sach- und Geldvermögen befreit. So gehören bis heutzutage einer Minderheit der Bevölkerung die Produktionsmittel, so dass diese die Wirtschaft in ihrem Interesse steuert, während die Mehrheit über kein anderes Vermögen als über das Arbeitsvermögen verfügt. Folglich ist eine strukturell ungleiche Verhandlungsposition beim Abschluss des angeblich freien Arbeitsvertrags geblieben. Der Arbeitgeber ist zwar auf fremde Arbeit angewiesen, um sein Vermögen rentabel verwerten zu können. Aber die Vereinbarung zwischen ihm und dem Arbeitnehmer erfolgt nicht auf gleicher Augenhöhe, sondern unter ungleichen Bedingungen. Der Arbeitgeber kann warten, der Arbeitnehmer steht unter Zeitdruck. Ungleiche Verträge sind in der Regel Zwangsverhältnisse und ungerecht. Dies gilt für den regulären Arbeitsvertrag, der nichtsolidarisch abgesichert ist. Und dies gilt erst recht für die Eingliederungsvereinbarungen, die den Arbeit suchenden erwerbslosen Bürgerinnen und Bürgern eines demokratischen Staates das Recht verweigern, eine Arbeitsgelegenheit, die ihnen angeboten wird, sanktionsfrei abzulehnen.
In der Phase des Finanzkapitalismus spitzt sich das Ausblenden dieser Schieflage wirtschaftlicher Macht zu einem sechsten Denkfehler zu. Die Unternehmen werden nicht mehr als Personenverband, sondern als Kapitalanlage in den Händen der Aktionäre gesehen. Die Finanzmärkte, die von Großbanken, Versicherungskonzernen und Kapitalbeteiligungsgesellschaften dominiert sind, kontrollieren die Unternehmen über eine reine Finanzkennziffer, den„shareholder value“, und die Aktienkurse. Die Manager bedienen ausschließlich die Interessen der Anteilseigner, die Interessen derer, die sich im und für das Unternehmen engagieren, nämlich Belegschaften, die Verbraucher und die öffentliche Hand spielen eine nachrangige Rolle. Gemäß der finanzkapitalistischen Logik werden die Anteile der Belegschaft, der natürlichen und gesellschaftlichen Ressourcen an der gemeinsam erarbeiteten Wertschöpfung als Kosten definiert und mit einem möglichst niedrigen Entgelt abgefunden, die Anteile der monetären Ressourcen an der Wertschöpfung nämlich das Fremd- und Eigenkapital werden mit dem Unternehmenszweck identifiziert und möglichst hoch entgolten. Wie sehr die Finanzmärkte die nationalen Regierungen zu erpressen imstande sind, ist an der rigiden Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die zu den Hartz IV Regelungen geführt hat, ablesbar.
2. Menschen in Hartz IV – Instrumente der Arbeitsgesellschaft
Dass eine lautere Absicht und gutes Gesetz erst durch die unzulängliche Durchführung der Arbeitsverwaltung missraten ist, lässt sich nicht behaupten. Nicht das Fehlverhalten und die Verantwortungsdefizite der Bundesanstalt und der Fallmanager haben das Hartz IV-Desaster verursacht, sondern die aufgezeigten Denk- und Systemfehler sind Bestandteil der politischen Optionen und der Hartz IV-Regelungen selbst. Wie werden die Arbeit suchenden Erwerbslosen von den beteiligten Verwaltungen gesehen und behandelt? Als Instrumente der Arbeitsgesellschaft, bissig formuliert als eines groß angelegten Arbeitslagers.
(1) Die abhängig Beschäftigten in Deutschland werden zu olympiareifen Athleten getrimmt. Der frühere Bundeskanzler Schröder hatte als wirtschaftspolitisches Ziel der zweiten rot-grünen Legislaturperiode angegeben, die deutsche Bevölkerung für den globalen Wettbewerb fit zu machen. In dieser Option drückt sich die Mutation des Sozialstaats zum Wettbewerbsstaat aus. Dieser sucht alle bisher ungenutzten Ressourcen des Arbeitsvermögens auszuschöpfen und deren Beschäftigungsfähigkeit herzustellen. Dazu ist der Schulterschluss der politischen und wirtschaftlichen Eliten erforderlich, die diese Einladung dazu nutzen, um sich hemmungslos als Lobbyisten in den Ministerien breit zu machen. Der frühere Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Ernst-R. Breuer fand die Vorstellung sympathisch, die Finanzmärkte quasi als fünfte Gewalt in der Demokratie zu betrachten, insofern die millionenfachen täglichen Entscheidungen der Anleger den nationalen Regierungen bessere Signale vermitteln können, was vernünftige Politik sei, als die vierjährigen Parlamentswahlen. Die Staaten seien dann in der Lage, das knappe, aber mobile Kapital ins Land zu holen, wenn sie die Gewerkschaften in Schach hielten, die Löhne, Steuern und Abgaben möglichst niedrig hielten und wenig Umverteilung organisierten. Der Staat wird zum „Territoriumsunternehmer“, die Regierung schleift bei Auslandsbesuchen eine Heerschar von Industriekonzernen und Großbanken hinter sich her, um für die deutsche Wirtschaft Auslandsaufträge hereinzuholen und die Exportkraft zu steigern.
(2) Diejenigen, die sich dieser gesellschaftlichen, nämlich wettbewerbsorientierten und exportgetriebenen Verantwortung entziehen, werden öffentlich als Schmarotzer und Parasiten, als Kriegsgegner, Feinde oder Saboteure diffamiert, die ausländische Interessen vertreten und ihre Bringschuld gegenüber der Arbeitsgesellschaft nicht leisten. Dazu gehören nicht diejenigen, die gering qualifiziert und arbeitsunfähig sind, wohl aber diejenigen, die zwar qualifiziert, aber nicht arbeitswillig sind, aber auch alleinerziehende Frauen, die sich dem Arbeitsmarkt verweigern und der Gesellschaft zur Last fallen, weil sie sich leichtfertig von ihrem Ehepartner getrennt haben. Das Aussortieren der nicht bedürftigen, aber faulen Erwerbslosen hat eine lange Tradition. Gegen Ende des Mittelalters unterschied man würdige Arme, die eine Lizenz zum Betteln erhielten, und unwürdige Arme, die in Arbeitshäuser eingewiesen wurden.
(3) Die als arbeitsuchend und arbeitslos Definierten sollen von den Arbeitsagenturen diszipliniert werden. Gutes Zureden und pädagogische Begleitung scheitern an der fehlenden Kompetenz solcher Fallmanager, die häufig aus technischen Berufsfeldern der Arbeitsverwaltung überwiesen wurden. Die eingesetzten Instrumente orientieren sich am Reiz-Reaktionsmechanismus, der beim Dressieren von Tieren getestet wurde und sich bewährt hat. Finanzielle Druckmittel wie die angedrohte Kürzung von Leistungen sollen gemäß der eindimensional monetären Dimension der Arbeitsbewertung die beabsichtigte Wirkung auslösen. Psychische Druckmittel sind die Strafandrohung verschlechterter Arbeitsbedingungen, die eine erhöhte Flexibilität und Mobilität verlangen, sowie einer weniger guten Arbeit, höherer Unsicherheit, Bereitschaft auf Abruf oder 1Euro-Jobs. Was als Eingliederungsvereinbarung auf gleicher Augenhöhe propagiert wird, ist ein Zwangs- und Gewaltverhältnis.
(4) Die Behandlung der von Hartz IV-Betroffenen ist entwürdigend. Die Behörden erwarten einen souveränen Umgang mit knappen Finanzmitteln unter erschwerten Bedingungen. Sie schnüffeln in privaten Wohnungen nach Bedarfsgemeinschaften und eheähnlichen Partnerschaften. Sie kontrollieren den Wohnkomfort. Heizkostenpauschalen werden willkürlich festgelegt. Hausbesuche und das Betreten der Wohnung werden gegenüber Ahnungslosen erzwungen. Jugendliche sollen telefonisch erreichbar sein, stehen unter einer Art kommunalen Hausarrests. Wie sehr die Kinder von Hartz-IV-Eltern darunter leiden, gesundheitlich und gesellschaftlich ausgeschlossen, insbesondere gegenüber gleichaltrigen Schulfreunden diskriminiert zu sein, haben die Bundesverfassungsrichter bestätigt. Der Sozialstaat ist zum Überwachungsstaat entartet. Entwürdigend ist darüber hinaus, dass die Personen in Hartz IV zu Opfern einer knirschenden Kooperation zweier Verwaltungen geworden sind, die betriebswirtschaftlich kalkulieren und nach jeweiliger Haushaltslage entscheiden. Die leicht Vermittelbaren werden wie an der Rampe aussortiert, die schwer Vermittelbaren in den öffentlichen Dienst oder kirchliche Wohlfahrtsverbände abgeschoben. Die zwei Sphären und Regelkreise eines Niedriglohnsektors mit Kombilohn und einer Erwerbsarbeit mit Arbeitslosengeld II bleiben weiter bestehen. Eine von den arbeitsuchenden Erwerbslosen unmittelbar gespürte widersinnige Entwürdigung durch die Arbeitsverwaltung besteht darin, dass die Ursache ihrer Arbeitslosigkeit und Armut sowie die Erfolglosigkeit der Wiedereingliederung in eine reguläre Beschäftigung nicht ihr individuelles Versagen, krimineller Missbrauch oder fehlende Arbeitsbereitschaft trotz vorhandener Arbeitsfähigkeit sind, sondern das Fehlen von Arbeitsgelegenheiten, die ein angemessenes Einkommen, sichere Perspektiven und ein angenehmes Betriebsklima versprechen.
(5) Die Rechte der Hartz IV-Betroffenen werden verletzt. Sie werden entrechtet behandelt. Nachdem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2010 haben Gesetzgeber und Regierung den Empfängern von Hartz IV fünf Jahre lang das soziale Grundrecht auf ein menschenwürdiges sozio-kulturelles Existenzminimum verfassungswidrig vorenthalten. Das Drängen von Mitarbeitern der Arbeitsagentur, sich gegen Widerstreben der Mieter den Zugang zu Wohnungen zu verschaffen und in der Wohnung zu kontrollieren, ist ebenso rechtswidrig wie der Auftrag an private Callcenter, die Angaben der Antragsformulare zu überprüfen. Den eheähnlichen Partnern wird eine Umkehr der Beweislastforderung zugemutet. Die Datenschutzbestimmungenwerden durch den automatischen Datenabgleich und durch das Abfragen sensibler Daten auf den Antragsformularen missachtet.
3. Menschen in Hartz IV – Politische Subjekte
„Wut und Apathie“ heißen die Kennzeichen einer allgemeinen Stimmungslage, wie die deutsche Bevölkerung auf die weiter schwelende und metastasierende Finanzkrise reagiert. Im Rahmen einer Langzeitstudie: „Deutsche Zustände“ hat das Institut für interdisziplinäre Konflikt und Gewaltforschung in Bielefeld, das von Wilhelm Heitmeyer geleitet wird, diese Reaktion ermittelt. Sie unterscheidet sich erheblich von der Reaktion der Bevölkerung auf das Inkrafttreten der Hartz IV-Beschlüsse im Januar 2005. Zum politisch-weltanschaulichen Komplex von Hartz IV gehört die Gegenbewegung des öffentlichen Protests.
(1) „Wut ohne Apathie“ ist eine angemessene Beschreibung der damaligen Reaktion von unmittelbar Betroffenen. Die ersten Proteste und Demonstrationen fanden in Magdeburg statt, und zwar unter dem Vorzeichen, die Montagsdemonstrationen von 1989 in Leipzig, allerdings mit einem sozialpolitischen Widerspruch, wieder aufleben zu lassen. Es entstand eine zunächst regionale Protestbewegung gegen Hartz IV und Massenarbeitslosigkeit. Die von Hartz IV Betroffenen werden zu kollektiven Subjekten zivilen Widerstands.
(2) Die Reaktion der politischen Klasse war rechthaberisch und aggressiv. Man werde sich dem „Druck der Straße“ nicht beugen, hieß es. Die Politik der rot-grünen Koalition unter Einschluss der bürgerlich-liberalen Opposition sei ohne Alternative. Leider werde dies von Teilen des Volkes nicht begriffen, die uneinsichtig seien. Die Fehler, die bei Hartz IV unterlaufen sind, seien Defizite der Vermittlung. Diese ließen sich durch intensive Aufklärungsarbeit in der Folgezeit beheben.
(3) Mit der „Wahlalternative für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ entstand eine beachtliche Ost-West-Allianz. Sie fand überraschend in sozial-kirchlichen und gewerkschaftlichen Milieus sowie in sozialen Bewegungen auf regionaler und lokaler Ebene Bündnispartner, die gebündelt über Bewegungsmacht verfügten und eine Gegenöffentlichkeit mobilisieren konnten. Es stellte sich heraus, dass der Riss zwischen der politischen Klasse und den Arbeitslosen, deren registrierte Zahl im Lauf des Jahres 2005 auf 5 Millionen stieg, nicht in der misslungenen Vermittlung unbestreitbarer Tatsachen bestand, sondern in einer unterschiedlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Der Verlust der SPD-Mehrheit in Nordrhein-Westfalen sowie die Kapitulation der Regierung Schröder war ein nicht übersehbares Signal, welche Gegenmacht die Anti-Hartz-IV Bewegung bereits errungen hatte.
(4) Die Gründung der Partei „Die Linke“ war ein folgenschwerer Schritt, um den gesellschaftlichen Widerstand im parlamentarischen System zu verankern und die parteipolitische Erosion der SPD zu vertiefen. Erstaunlicherweise war es vorher noch nie gelungen, dass eine soziale Bewegung in einem so kurzen Zeitraum das parlamentarische System so gründlich aufgemischt hat. Seltsamer Weise gelingt anscheinend durch die politischen Veränderungen in Nordrhein-Westfalen, nämlich mit einer rot-grünen Minderheitsregierung in veränderter personaler Zusammensetzung unter Duldung der Linken, eine wirksame Korrektur der Hartz-IVRegelungen.
(5) Menschen in Hartz IV sind als Sieger mit aufrechtem Gang aus einem Rechtsstreit hervorgegangen, der fast fünf Jahre gedauert und vom Bundesverfassungsgericht im Februar 2010 entschieden worden ist. Die Richterin und die Richter des Ersten Senats in Karlsruhe haben geurteilt, dass die Hartz IV-Bedürftigen das subjektive soziale Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimums geltend machen können, das die Erfüllung materieller, vitaler, sozialer und kultureller Bedürfnisse einschließt. Sie haben den Gesetzgeber und die Regierung verurteilt, weil sie den von Hartz IV Betroffenen dieses Recht fünf Jahre lang vorenthalten haben, indem die Regelsätze ins Blaue hinein geschätzt worden sind, die Indexierung am Rentenniveau unangemessen war, die Kinder sachwidrig als 60-prozentige Erwachsene eingestuft, Härtefälle nicht berücksichtigt worden und die Nachbesserungen unzureichend gewesen sind. Einzig der Blick auf die Haushaltslage war wohl für die staatlichverordnete Unterversorgung der Hartz IV-Empfänger bestimmend.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Verkündigung des sozialen Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum für jeden Bedürftigen die Frage der Gerechtigkeit als Grundnorm einer demokratischen Gesellschaft in Erinnerung gerufen. Gegen den Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit einer Arbeitsgesellschaft, die einen engen Zusammenhang zwischenmenschlicher Würde und der Beteiligung an der gesellschaftlich organisierten Arbeit herleitet, haben die Richterin und die Richter vorgängig zur Erwerbsarbeit das Recht auf ein Mindestmaß an wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gütern aus dem sozialen Grundrecht von Bürgerinnen und Bürgern einer demokratischen Gesellschaft abgeleitet. Dies sehen sie in der Würde der menschlichen Person grundgelegt und nicht in einem Leistungsvermögen, das auf Kaufkraft hin angelegt ist.
Der vorliegende Text wurde als Referat auf dem Berliner Armutskongress am 19. Juni 2010 gehalten.
Friedhelm Hengsbach SJ ist ein deutscher Jesuit und zählt heute zu den bekanntesten Sozialethikern in Deutschland.
Nach dem Abitur trat er 1957 als Zwanzigjähriger der Gesellschaft Jesu bei und studierte 1959 bis 1962 an der ordenseigenen Hochschule für Philosophie in München. 1964-1968 studierte er Katholische Theologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 1968-1972 Wirtschaftswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. 1967 erhielt er das Sakrament der Priesterweihe.
Hengsbachs Arbeiten kreisen um die Themen Zukunft der Arbeitsgesellschaft, Verbindung von Erwerbssystem und sozialer Sicherung, politische Wirtschaftsethik und die Theorie demokratiefähiger Marktwirtschaften.
www.gegenblende.de
www.wikipedia.de
Freitag, 15. Oktober 2010
Hartz IV – ein Bürgerkrieg der politischen Klasse gegen die arm Gemachten
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