Montag, 13. September 2010

Zahlendreher

Arbeitslosenstatistik – was steckt dahinter?

In den letzten Monaten erreichen uns sehr positive Zahlen vom Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote ist eine der wichtigsten Kennziffern für Erfolg oder Scheitern von Regierungshandeln. Daher steht die monatliche Arbeitslosenstatistik der Bundesagentur für Arbeit im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Deren Präsident Frank-Jürgen Weise verkündete bei der Bekanntgabe der Mai-Zahlen von 3 240 000 Erwerbslosen am 1.Juni 2010 , „dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf den niedrigsten Stand seit 1992 gefallen“ sei. Ein Autorenteam der Zeitschrift Lunapark 21 hat die Zahlen vom Monat Mai 2010 genauer analysiert.

Ein unbefangener Beobachter könnte vermuten, dass unter diesen 3 240 000 Erwerbslosen alle Personen aufgeführt werden, die man nach landläufiger Meinung arbeitslos nennen könnte. Dem ist aber nicht so.

Nicht enthalten sind beispielsweise 350 000 über 58-Jährige, die erwerbslos sind und Arbeitslosengeld II beziehen.

Nicht enthalten sind 303 697 Erwerbslose, die als Ein-Euro-Jobber eingesetzt sind.

Nicht enhalten sind 252 649 Erwerbslose, die bei privaten Arbeitsvermittlern geführt werden.

Nicht enhalten sind 214 548 Erwerblose, die sich in beruflicher Weiterbildung befinden.

Nicht enthalten sind 38 827 Personen, die einen Beschäftigungszuschuss für schwer vermittelbare Erwerbslose erhalten haben.

Nicht enhalten sind 43 902 kranke Erwerbslose (§ 126 SGB III).

Im Monat Mai gab es knapp 700 000 Kurzarbeiter, was rund 233 000 Vollarbeitsplätzen entspricht. Auch diese müssten eigentlich – könnte man denken - in der Statistik berücksichtigt werden. Werden sie aber nicht.

Insgesamt kommen wir so auf ca 1,4 Millionen zusätzliche Erwerbslose.bzw. eine tatsächliche Arbeitslosigkeit von 4,6 Millionen (mit Kurzarbeit 4,8 Mio).

Darüber hinaus müsste auch die millionenfache Umwandlung von Vollzeitarbeitsjobs in Teilzeit-, Midi- oder Minijobs erwähnt werden. Ebensowenig tauchen die Beschäftigten auf, die vielleicht sogar in Vollzeit arbeiten, aber wegen mies bezahlter Löhne Hartz-IV-Unterstützung erhalten („Aufstocker“). Unerwähnt ist auch die stille Reserve derjenigen, die die Suche nach Erwerbsarbeit aufgegeben haben.

Fazit: Die Massenerwerbslosigkeit bewegt sich weiter auf dem Niveau des Nachkriegsrekords am Ende der Schröder-Ära vor Einführung der Hartz-IV-"Reformen".

Man könnte nun diese statistischen Taschenspielertricks zur Kenntnis nehmen, dann zur Tagesordnung zurückkehren und sich vielleicht noch ein bisschen ärgern, dass die offizielle Arbeitslosenstatistik als Informationsquelle unbrauchbar ist. Vielleicht optimiert die Agentur (früher: Anstalt) zukünftig noch ihre Präsentationstrategie und lässt eine der vielen medialen showroom dummies , etwa Nina Ruge, schlicht verkünden: „Alles wird gut“. Oder sie ist so konsequent wie die amerikanische Notenbank, die seit einigen Jahren eine der wichtigsten Kennziffern, das Geldmengenwachstum, einfach überhaupt nicht mehr mitteilt.

Eine Analyse der Langzeitentwicklung der Arbeitslosenquote führt allerdings zu beunruhigenden Resultaten. Seit Mitte der 70er Jahre gibt es einen permanenten Anstieg der Sockelarbeitslosigkeit, der durch keine positive Konjunkturentwicklung gestoppt oder gar umgekehrt werden konnte. Grob gesagt, kam in jedem Jahrzehnt eine Million Erwerbslose dazu.

Der Traum einer prosperierenden kapitalistischen Industriegesellschaft mit den beiden Säulen Vollbeschäftigung und Massenkonsum unter dem Label „Soziale Marktwirtschaft“ war spätestens Ende der siebziger Jahre ausgeträumt. Das „Goldene Zeitalter des Kapitalismus“ (Eric Hobsbawm) war nach zwei Jahrzehnten beendet und aus heutiger Sicht wird immer deutlicher, dass es sich hier nicht um einen Normal- sondern um einen Ausnahmezustand gehandelt hat.

Gründe für diese Entwicklung gibt es viele. Einer der Hauptgründe dürfte die mit dem Auslaufen des fordistischen Nachkriegszyklus langfristig sinkende Kapitalprofitabilität in hochentwickelten Industrieländern sein. Es ist kein Zufall, dass genau in dieser Phase die Ursprünge der heutigen finanzkapitalistischen Krise verortet werden müssen.

Nachdem der Arbeitsmarkt immer weniger Arbeitskräfte benötigt, könnte man auf die Idee kommen, dass eine radikale Arbeitszeitverkürzung dieses systemimmanente Problem lösen könnte. Dies würde jedoch Fragen der Verteilung des produzierten Reichtums aufwerfen und bestehende Eigentumsstrukturen antasten. Die Politik fand eine andere „Lösung“: Hartz IV, Ausweitung des Niedriglohnsektors, Privatisierung öffentlichen Eigentums , Rente mit 67 und die Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse eines beträchtlichen Teils der lohnabhängig Beschäftigten.

Solange die Gewerkschaften – und das heißt: wir - es nicht schaffen, die neoliberale Hegemonie über den gesellschaftlichen Diskurs zu brechen, solange massenmediale Hetzkampagnen gegen „Sozialschmarotzer“ und neuerdings „Muslime“ nicht gestoppt werden, solange wird die aktuelle Situation als alternativlos wahrgenommen werden.


Quellen:
Lunapark21, Heft 10, Sommer 2010, S. 2 -3
 
http://www.lunapark21.de/

www.jjahnke.net/arb.html

8 Kommentare:

  1. Ist schlimm, wie wir für "dumm" verkauft werden. Sei es von der Politik, sei' es von den Medien und auch hier mit der Arbeitslosenstatistik.
    Es ist gut, die Zahlen einmal auf einen Überblick zu sehen. Danke

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  2. Völlig unverständlich ist mir bis heute, warum genau die Parteien, die Hartz IV, Minijobs, Rente mit 67 u.ä. menschenverachtende Ideen zu verantworten haben, immer wieder mit großer bis sehr großer Mehrheit gewählt werden!
    Presse und Medien haben hier einen Riesen-Einfluss auf Meinungsmache und jede Alternative wird sofort in Grund und Boden gestampft. Die allgemeine Ansage lautet dann "Nicht umsetzbar und/oder realisierbar!"
    Und die Mehrheit scheint's zu glauben...

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  3. Ich weiß, daß die Arbeitslosenstatistiken nicht stimmen, dazu muß man sich nur die Methodik der Umschulungen etc. ansehen. Trotzdem bin ich mißtrauisch, wenn ein Autorenteam dann die Zahlen wiederum im Sinne seiner Zeitung analysiert. Die Wahrheit wird, wie so oft, irgendwo in der Mitte liegen...

    Und ganz ehrlich, Arbeitszeitverkürzung hielt man schon vor Jahren für eine Lösung, nur will dann keiner weniger Geld verdienen. Und wir leben - Gott sei Dank - nicht in einem sozialistischen System, in dem sich tatsächlich die "Frage nach der Verteilung des produzierten Reichtums" stellt und "bestehende Eigentumsstrukturen" antastbar sind!

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  4. @Anonym 13.09, 9:46:
    Wer sagt denn, daß die Zahlen in diesem Medium hier stimmen? Ich kann das leider nicht beurteilen. Die Zahlen hier sind aber genauso in den Raum gestellt, wie die "offiziellen". Ich kenne auch die Zeitung nicht (tut mir Leid!) und weiß nicht, welchen Ruf sie genießt. Der Artikel klingt aber ein bisschen arg weit links, oder darf man das hier nicht sagen?

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  5. @ Anonym 14.September 2010 18:39
    Meinen Beobachtungen zufolge herrscht in diesem Blog Meinungsfreiheit. Also, warum solltest Du nicht sagen dürfen, was Du denkst?
    Auch Deine Zweifel am Wahrheitsgehalt von veröffentlichten Statistiken und Zahlen halte ich für berechtigt.
    Wichtiger ist mir die Botschaft des Artikels, nämlich die Aussage über die unbestrittene Tatsache, dass verschiedene "Kundenstämme" der Agentur für Arbeit aus der Statistik rausgerechnet werden, weil sie an angebotenen Maßnahmen teilnehmen.
    Glaube mir, ich bin vielen 1-Euro-Jobbern begegnet, die einen härteren Arbeitstag bestreiten als ich und die wirklich gute Arbeit leisten. Eine gute billige Arbeitskraft für "interessierte" Unternehmen; letztlich vom Steuerzahler gezahlt.
    Unsere Gesellschaft hat echte, ernstzunehmende <Probleme, die nicht mehr in "links-mitte-rechts" festzumachen sind. Dies bedeutet: politischer Auftrag an ALLE !

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  6. @ Anonym 14.September, 22:50:
    Danke für die Plattitüde! Einen Artikel, der die "bestehenden Eigentumsverhältnisse" angreift (...), empfinde ich als neben der Spur.

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  7. "Als neben der Spur" empfinde ich eine seit vier Jahrzehnten ansteigende Massenarbeitslosigkeit, 2,5 Millionen Kinder in Armut und eine sich abzeichnende Altersarmut."Als neben der Spur" empfinde ich auch die Leute, die das alles widerspruchslos hinnehmen.

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