Gastkommentar von Frank Bsirske (ver.di)
In ganz Europa haben Beschäftigte das Recht auf politische Streiks. Es gibt nur drei Ausnahmen: Großbritannien, Dänemark und Deutschland. Das deutsche Verbot stammt von 1955 und basiert auf der damaligen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Inzwischen ist die Situation völlig anders: Viele politische Entscheidungen haben erheblichen Einfluss auf die »Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen«, deren »Wahrung und Förderung« durch die Gewerkschaften Artikel 9 Grundgesetz ausdrücklich schützt. Sich gegen politisch verursachte Verschlechterungen ihrer Arbeits-, Beschäftigungs- und Lebensbedingungen zu wehren, ist das gute Recht aller Arbeitnehmer.
In diesen Wochen protestieren in Betrieben, Verwaltungen und auf der Straße mehr als drei Millionen Menschen gegen eine sozial ungerechte und einseitige Kürzungspolitik. Sie wehren sich gegen die Kopfpauschale, die Rente mit 67 und gegen Unternehmen, die Menschen fast nur noch befristet einstellen und immer mehr sozial ungeschützte Leiharbeiter beschäftigen. Sie sehen die Verarmung vieler Menschen, die arbeiten und dennoch von ihrem Lohn nicht leben können. Sie wissen: Gerecht geht anders!
Während der Bundesfinanzminister plant, Unternehmen ganz oder teilweise von der Gewerbesteuer zu entlasten, verbünden sich die Beschäftigten mit den Räten und Oberbürgermeistern vieler Städte, die sich in akuter Not befinden und mit immer neuen Sparhaushalten die Bürger belasten. Diese Aktionen stoßen bei Union und FDP und anderen Wirtschaftslobbyisten nicht auf Wohlwollen. Politischer Protest stört ihre Kreise – in Stuttgart, in Gorleben, in den Betrieben und Verwaltungen. Merkel und Co. wollen ihre Entscheidungen durchziehen.
Doch der Protest wird weitergehen, auch in den Betrieben. Lenin hat gespottet, bevor die Deutschen einen Bahnhof stürmen, kaufen sie eine Bahnsteigkarte. Ein Greenpeace-Aktivist hat vor Gorleben gesagt, man werde am Ende die Castoren nicht aufhalten, aber den Fahrplan von Schwarz-Gelb durcheinander bringen.
Die Gewerkschaften und ihre Bündnispartner wollen nicht nur den Fahrplan durcheinanderbringen,
sondern dass der Zug eine andere Richtung nimmt. Bahnsteigkarten sind in Deutschland abgeschafft.
Frank Bsirske ist Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di
(Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von: Neues Deutschland, 12.11.2010)
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