Samstag, 31. August 2013

Hugendubel Undercover Boss (3): "In hoc signo vinces!"

Liebe Leserinnen und Leser,

was wäre der Held einer Geschichte ohne die Reise, die er auf sich nimmt, um gefährliche Abenteuer zu bestehen? Homers Odysseus machte es per Schiff, Hartmann von Aues Erec machte es auf einem Pferd, manche absolvieren 400 Kilometer auf einem Rasenmäher wie der 73-jährige Alvin Straight in der "Straight Story" von David Lynch, andere wiederum machen sich via Computerspiel virtuell im eigenen Kopf auf die Reise.

Auch Herr Michael folgt jenem archaischen Topos und begibt sich auf die Reise, im dritten Teil von Hugendubel Undercover Boss.

Was Sie, liebe Leserin, lieber Leser, von dieser Reise erwarten können, hängt ein bißchen von Ihnen selbst ab:  "To expect the unexpected", sagt Oscar Wilde, "shows a thoroughly modern intellect".

In hoc signo vinces


Ort: Auf der Autobahn in einem Kleintransporter.
Zeit: 5.00 Uhr morgens.

Die Distriktsleiterin fährt, Herr Michael sitzt daneben auf dem Beifahrersitz. Sie sind schon seit einer Stunde unterwegs. Beide sind müde und trinken gelegentlich aus einer Thermos-Tasse starken Kaffee. Aus dem Morgengrauen taucht am rechten Fahrbahnrand ein Schild mit der Aufschrift "Gewerbegebiet III" auf.

Distriktleiterin: "Hier müssen wir raus für einen Zwischenstop."

Sie fahren die Straße auf einer Anhöhe entlang, von der man einen guten Überblick auf das Gewerbegebiet hat. Man sieht einen riesigen, hektargroßen und sehr hohen Gebäudekomplex, der durch einen verglasten Verbindungsgang mit einer im Vergleich dazu winzigen, etwas niedrigeren Halle verbunden ist.

Distriktleiterin (zu Herrn Michael gewandt und auf das Riesengebäude deutend): "Da müssen wir rein!"

Herr Michael: "Hier ist wohl das Versandzentrum?"

Distriktleiterin (spöttisch lächelnd): "Wir werden sehen...".

Sie gelangen schließlich, nachdem sich auf dem Weg dorthin mehrere Schranken automatisch geöffnet haben, mit ihrem Kleintransporter auf den riesigen Firmenparkplatz. Sie steigen aus. Die Distriktleiterin läuft auf eine Eingangstür zu, öffnet sie mit ihrer elektronischen Zugangskarte und bedeutet Herrn Michael ihr zum Fahrstuhl im Eingangsbereich folgen.

Distriktleiterin: "Wir fahren jetzt erst mal mit dem Lift ganz nach oben zur Empore, da haben Sie einen schönen Überblick, dann gehen wir runter und nehmen eine Ladung für uns mit."

Ganz oben angekommen. Herr Michael, der nicht ganz schwindelfrei ist, schätzt die Höhe der sogenannten "Empore" auf 30 Meter. Von hier aus konnte man sehen, wie die Prozesse organisiert waren: auf der linken Seite an der Laderampe des Komplexes standen dicht an dicht 50 LKWs.
Man konnte nur ihre geöffneten Rückseiten sehen, aus der unterschiedlich große, paketförmige Gegenstände ausgeladen wurden. Förderbänder transportierten sie weiter. Wie ein großer breiter Fluß am Delta verzweigte und verästelte sich dieser Strom der Dinge. An jedem Schnittpunkt konnte man hunderte von Menschen in Betriebsuniformen sehen, wie sie diese Masse immer feiner verteilten und sortierten. Ein hochkomplexer, ausgetüftelter Organismus, dessen pulsierende Adern die in permanenter Bewegung befindlichen Förderbänder waren.

Distriktleiterin: "Sehen wir uns die Sache mal aus der Nähe an!"

Sie fahren mit dem Lift wieder ins Erdgeschoß. Herr Michael folgt der zielstrebig in das Innere der Riesenhalle laufenden Distriktleiterin. Es fällt schwer, inmitten des Lärms aus gellenden Kommandos der Vorarbeiter, den schabenden Geräuschen der Antriebsmotoren der Förderbänder sowie den scheinbar chaotisch vorbeiziehenden Paketen den Überblick zu behalten.

Plötzlich bleibt die Distriktleiterin an einer Station stehen und spricht einen der dort beschäftigten Arbeiter an.

Distriktleiterin (sieht auf ihre Uhr): "Ich weiß, wir sind spät dran. Ist die Ladung fertig?"

Arbeiter (erschöpft): "Ja".

Herr Michael beobachtet interessiert die Arbeitsabläufe an den Stationen in seiner Nähe. Ihm fällt nach einer Zeit auf, daß die einzelnen Kisten, die aus den LKWs ausgeladen werden auf ihrem Weg über die Förderbänder geöffnet und ihnen kleinere Pakete entnommen werden, die wiederum geöffnet werden, um ihnen die darin enthaltenen Bücher zu entnehmen. Die anfangs noch großen, scheinbar unsortierten Bücherhaufen werden dann immer weiter feinsortiert. Es ist offenbar ein System des Ausdifferenzierens der Bücher von ihrem Weg von der Laderampe auf der Westseite hin zum großen Tor auf der Ostseite, wo man Anfang des verglasten Verbindungsgangs zur kleineren Halle erkennen konnte. An jeder Station gab es verschieden farbige Kunststoffbehälter, die nach einem für ihn  nicht durchschaubaren System angeordnet waren. Die Arbeiter an den Förderbändern entnahmen andauernd mit gezielten Griffen einzelne Bücher um sie nach prüfendem Blick in die Kunstoffkisten zu sortieren.Je weiter die Bücher aber nach Osten transportiert wurden, umso weniger schienen sie zu werden. Nur ganz wenige kamen am Sammelpunkt vor dem Osttor an.

Herr Michael (zum Arbeiter gewandt): "Ich verstehe dieses System hier noch nicht ganz. Sie sortieren also die einzelnen Bücher gemäß den Kundenwünschen in diese verschiedenfarbigen Kunststoffbehälter ein, um sie dann zu Kundenpaketen versandfertig zusammenzustellen. Was am Osttor ankommt, ist demnach Ausschußware?"

Arbeiter (zögert zunächst mit seiner Antwort, macht eine lustlose Handbewegung, blickt dann zur Distriktleiterin, die ihm stumm zunickt): " Es ist genau umgekehrt. Wir sortieren hier nicht  e i n , wir sortieren hier  a u s   (deutet auf die Kunststoffbehälter).  Was am Osttor ankommt, ist für die Kunden bestimmt.
D a s  hier ist Ausschußware."

Herr Michael erstarrte beim Anblick der tausenden und abertausenden aussortierten Bücher.


Er sah sich die Beschriftung auf den farbigen Kunststoffbehältern an und begann plötzlich zu verstehen: auf den daran befestigten Papierstreifen stand beispielsweise handschriftliche Einträge wie "Atheismus, 19. Jahrhundert", "Lesbische Liebe" oder "Katholische Ketzer" .

Da tippte ihn der Arbeiter auf seine Schulter und deutete auf das riesige weinrote Kreuz an der Ostseite der Riesenhalle und die darunter angebrachte Inschrift.

Arbeiter: "So wie Sie aussehen, haben Sie doch bestimmt studiert. Jetzt arbeite ich schon so viele Jahre hier und weiß noch immer nicht, was diese Inschrift da oben (deutet nach oben auf die metergroße Inschrift unter dem riesigen Kreuz an der Ostwand) bedeutet?"



Herr Michael (murmelt leise): "In hoc signo vinces... (zum Arbeiter gewandt) Das bedeutet: ´In diesem Zeichen wirst Du siegen`. Kaiser Konstantin soll vor der Schlacht an der Milvischen Brücke im Traum ein leuchtendes Kreuz mit dieser Inschrift erschienen sein mit dem Hinweis, dass er das Zeichen gegen seine Feinde einsetzen solle."

Distriktleiterin (ungeduldig auf die Uhr tippend): "Wir haben keine Zeit für intellektuelle Plaudereien, Herr Michael! Um 15.00 Uhr muß ich in unserer Filiale in Hoyerswerda sein! Helfen Sie mir und tragen Sie diese Kiste (deutet auf eine Kunststoff-Kiste, die der Arbeiter herauszieht und Herrn Michael übergibt) in unseren Kleintransporter!"

Herr Michael (wirft ungläubig einen Blick in die Bücherkiste aus dunkelbraunem Kunststoff und ist irritiert):
"Endsieg bei Stalingrad? Die Geschichte der SS-Totenkopf-Division? Panzergrenadiere auf dem Vormarsch? Wieso Kleintransporter? Sollte das nicht besser entsorgt werden? (zunehmend empört): "Ich dachte, es handelt sich hier gänzlich um aussortierte Titel?"

Distrikleiterin (ungeduldig): "Aussortieren, einsortieren... ich habe für solche Spitzfindigkeiten keine Zeit!

Es handelt sich wohl um, äh, militärgeschichtliche Werke. Außerdem macht die dortige Filiale übermorgen einen Büchertisch für einen, äh,  Event."

Herr Michael: "Welcher Event?"

Distriktleiterin: "Na, Führers Geburtstag!"







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