Mittwoch, 16. Januar 2013

Wer bekommt wieviel vom gesellschaftlichen Reichtum?

Lackmustest Umverteilung

In getrennten Interviews plädierten vor wenigen Wochen der DGB-Vorsitzende Michael Sommer und der IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber mehr oder weniger direkt für eine Wiederauflage der großen Koalition. Zwei wichtige Gewerkschaftsführer zeigen der Öffentlichkeit, daß sie keinesfalls gewillt sind, ihre Organisationen für einen Politikwechsel im Bundestagswahljahr 2013 zu mobilisieren, sondern daß sie mit Angela Merkel als Bundeskanzlerin und der SPD als Juniorpartnerin durchaus leben können. Insbesondere Huber drückt damit aus, daß seine Organisation mit der Politik der großen Koalition ganz gut durch die größte Krise der Nachkriegsgeschichte gekommen ist, mit Hilfe insbesondere der Verlängerung der Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld und der Abwrackprämie, was die Basis für zahlreiche innerbetriebliche Bündnisse bildete.


In Wirklichkeit sind Millionen Menschen nicht gut durch die Krise gekommen.

Über acht Millionen Menschen müssen im Niedriglohnbereich arbeiten, davon 1,5 Millionen unter fünf Euro die Stunde. Prekäre Arbeitsverhältnisse wie Leiharbeit, Befristungen, Minijobs, unfreiwillige Teilzeitarbeit bzw. Werkverträge dehnen sich krebsartig aus. Die Tarifbindung der ostdeutschen Beschäftigten ist unter 40 Prozent und der westdeutschen unter 60 Prozent gefallen. Relativ gut durch die Krise sind also, wenn überhaupt, die »Kernbeschäftigten« der gut verdienenden Industrie und der noch besser verdienenden Exportindustrie gekommen. Offensichtlich denkt Huber, daß er dies im voraussichtlichen Krisenjahr 2013, indem doch erhebliche Gefahren durch die nicht bewältigte Euro-Krise und die auch in Deutschland nachlassende Konjunktur drohen, im Bündnis mit einer großen Koalition wiederholen kann. Wenn er sich da nur nicht täuschen wird.

Offensichtlich haben sich sowohl Huber als auch Sommer entschieden, nicht mehr die Interessen der gesamten »Arbeiterklasse«, also auch der prekär Beschäftigten, Erwerbslosen sowie Rentnerinnen und Rentner in den Mittelpunkt gewerkschaftlicher Politik zu stellen. Damit wächst jedoch die Gefahr, nur noch als Interessenvertreter einer kleiner werdenden Gruppe von tariflich gebundenen Kernbelegschaften wahrgenommen zu werden.


Wettbewerbskorporatismus

»Das Schweigen war ohrenbetäubend.« Mit diesen Worten kommentierte die linksliberale Schweizer Wochenzeitung WOZ am 13. Dezember 2012 das Verhalten der deutschen Gewerkschaften zum Generalstreikaufruf der Gewerkschaften in Portugal und Spanien am 14. November 2012. »Als am 14. November die Gewerkschaften von Spanien und Portugal zu einem Generalstreik aufriefen, Beschäftigte in Griechenland und Italien die Arbeit niederlegten und in Belgien keine Züge verkehrten, hörte man von den deutschen Gewerkschaften fast nichts. Keine Streiks, keine Aktionen, höchstens die eine oder andere Sympathiebekundung. Die Industriegewerkschaft Metall veröffentlichte nicht einmal den Streikaufruf des Europäischen Gewerkschaftsbundes.«

Eine Erklärung dafür lieferte IGM-Chef Huber, der zu später Stunde in einem Interview sagte: »Die (spanischen) Metallgewerkschaften haben in erster Linie den Reallohnausgleich als Sinn und Zweck ihrer Tarifpolitik gesehen. (…) Damit haben die spanischen Gewerkschaften ihren Vorteil verspielt, daß sie nämlich billiger als die deutsche Industrie waren.« Trefflicher kann man nicht ausdrücken, daß statt europäischer oder gar internationaler Solidarität Wettbewerbs­korporatismus angesagt ist. Vermeintlich erhofft man, von der Exportstärke der Metallindustrie zu profitieren und mehr als andere für die eigenen Mitglieder herausholen zu können.

Kurzfristig mag das stimmen, mittelfristig und langfristig geht diese Politik jedoch in die Hose, von den sozialen und politischen Folgen einmal ganz zu schweigen. Schon jetzt kommen die Einschläge der wirtschaftlichen Krise in Europa näher und treffen mehr und mehr Betriebe, die darauf mit Standortschließungen, Sparprogrammen und Arbeitsplatzvernichtung reagieren (Opel, Siemens, MAN usw.). Unter gewerkschaftlichen und gewerkschaftsnahen Ökonomen gibt es keinen Zweifel, daß die wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Ländern und Regionen eine Ursache für die »Schuldenkrise« sind. Deutschland trägt mit seinen immer noch wachsenden Exportüberschüssen, gestützt auf eine geringe, wenn nicht gar stagnierende Lohnstückkostenentwicklung erheblich zu diesen Ungleichgewichten bei. Sinkende Reallöhne in einem politisch gewollten, extrem gespaltenen, auseinanderdifferierenden und deregulierten Arbeitsmarkt sind neben einer hochproduktiven und weltmarktorientierten Industrie eine wesentliche Basis für diese Entwicklung.      
Höhere Löhne
 
Der Ökonom Heiner Flassbeck predigt seit längerem, daß die deutschen Exportüberschüsse dringend abgebaut werden müssen und dazu Lohnerhöhungen von 4,5 bis fünf Prozent über einen Zeitraum von sieben bis zehn Jahren notwendig wären. Davon sind wir seit vielen Jahren weit entfernt. Auch wenn die tarifliche Lohnentwicklung um bis zu sieben Prozent besser ist als die für nichttarifgebundene Beschäftigte, so bleibt die Lohnentwicklung, über einen Zehnjahreszeitraum betrachtet, deutlich hinter den vorhandenen Möglichkeiten zurück. In der Regel wurde selbst der verteilungsneutrale Spielraum (Preissteigerung plus Produktivitätsentwicklung) nicht ausgeschöpft. Dabei wäre der wichtigste Akt der Solidarität mit den Beschäftigten der europäischen »Schuldnerländer«, die häufig bei ihren Abwehrkämpfen mit dem Rücken an der Wand stehen, in Deutschland deutlich höhere Löhne durchzusetzen. Dazu bedarf es offensiv angelegter Tarifrunden, die von vornherein auf die Mobilisierung der Mitglieder angelegt sind. Gelegenheiten gibt es in diesem Jahr einige: in der Metallindustrie, im Einzelhandel, im öffentlichen Dienst (wobei die Mobilisierungskraft von ver.di im Länderbereich begrenzt ist) und in einigen weiteren kleineren Branchen. Gleichzeitig müssen diese Auseinandersetzungen mit einer politischen Mobilisierung gegen die Deregulierung am Arbeitsmarkt und für die Umverteilung von oben nach unten verbunden werden.



Doppelte Aufgabe

Exbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ist heute noch stolz darauf, daß Deutschland den »besten« (er meint den größten) Niedriglohnsektor in Europa hat. Zwischenzeitlich haben andere Länder leider »aufgeholt«. Seine Aussage macht jedoch noch einmal deutlich, daß mit der Deregulierung des Arbeitsmarktes (Agenda 2010) der zentrale Angriff auf die Löhne stattgefunden hat und dieser Angriff erfolgreich war. Nahezu ein Viertel der Beschäftigten arbeitet im Niedriglohnbereich. Die prekären Arbeitsverhältnisse sind längst für Millionen Menschen bittere Realität. Leiharbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, Werkverträge, Minijobs sind in der Regel nicht nur schlecht bezahlte und ungeschützte Arbeitsverhältnisse, sie tragen auch erheblich zur Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit bei.

Die Gewerkschaften wurden und werden erheblich geschwächt. Es ist fast nicht möglich und aus gewerkschaftlicher Sicht auch riskant, z.B. befristet Beschäftigte zum Streik aufzurufen. Im Einzelhandel, aber auch durchaus in anderen Branchen sind längst 20 bis 30 Prozent der Beschäftigten in befristeten Arbeitsverhältnissen. Unter diesen Bedingungen ein Kaufhaus oder eine größere Lebensmittelfiliale lahmzulegen, ist mehr als schwer. Ähnlich verhält es sich mit Beschäftigten im Rahmen von Werkverträgen. Auch Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter sind schwer zu organisieren und zu mobilisieren. Bei der Modekette H&M etwa wurden diese in der letzten Tarifauseinandersetzung systematisch als Streikbrecher eingesetzt. Als Lohnbremse funktioniert weiterhin Hartz IV. Die Hartz-Gesetze bedeuten nicht nur Armut per Gesetz, sie richteten sich nie ausschließlich gegen Erwerbslose, sondern wurden immer als Disziplinierungspeitsche gegenüber den Beschäftigten eingesetzt.


Die Gewerkschaften haben hier eine doppelte Aufgabe. Sie müssen einerseits die Beschäftigten im Niedriglohnbereich und in prekären Beschäftigungsverhältnissen (viele sind auch an der Nahtstelle zur prekären Beschäftigung) besser gewerkschaftlich organisieren. Gleichzeitig müssen sie mit ihnen betriebliche und tarifliche Kämpfe um die Regulierung ihrer Arbeitsverhältnisse und höhere Löhne führen. Das ist nicht einfach, aber möglich, wie viele Kämpfe in den letzten Jahren bewiesen haben, so im Reinigungsgewerbe, im Einzelhandel, im öffentlichen Dienst, bei Servicediensten in Flughäfen oder auch im Bewachungsgewerbe. Die Gewerkschaften müssen sich von ihrer immer noch viel zu stark ausgeprägten Orientierung auf die Kernbelegschaften lösen und deutlich mehr Ressourcen zur Organisierung der anderen Bereiche, die längst keine Randgruppen mehr sind, einsetzen. Gleichzeitig müssen die Kernbelegschaften im eigenen Interesse für die Kämpfe um die Regulierung der Arbeitsbeziehungen gewonnen werden.

Andererseits müssen die Gewerkschaften auf dem politischen Feld für die Reregulierung auf dem Arbeitsmarkt kämpfen. Gerade im Bundestagswahljahr heißt das für die Gewerkschaften, in den Betrieben und auf der Straße Flagge zu zeigen und für den gesetzlichen Mindestlohn, für ein Zurückdrängen der Leiharbeit und übergangsweise Equal Pay, erweiterte Mitbestimmungsrechte bei Werkverträgen, Verbot von Minijobs wie für eine sanktionsfreie Mindestsicherung usw. machtvoll zu mobilisieren. Es gleicht dem Hase-und-Igel-Spiel, wenn sich die Gewerkschaften auf Betriebs- und Tarifpolitik beschränken. Verbunden mit außerparlamentarischer Mobilisierung könnten die Gewerkschaften klare Anforderungen an alle Parteien stellen und so starken Druck aufbauen. Das würde mehr bewirken, als im Kanzleramt ein- und auszugehen.



»Umfairteilen« fortsetzen

Die 2012 von einigen Gewerkschaften (ver.di, GEW, NGG) im Bündnis mit Wohlfahrtsverbänden, ATTAC und anderen mit der Unterstützung z.B. der Partei Die Linke begonnene Kampagne »Umfairteilen« muß unbedingt fortgesetzt werden. Wenn jedoch tatsächlich zu Lasten der Reichen durch Vermögenssteuer, Vermögensabgabe und durch die stärkere Besteuerung von hohen Erbschaften umverteilt werden soll, muß der Druck gewaltig steigen. Insbesondere ver.di läuft sonst Gefahr, daß die tarifpolitischen Spielräume im öffentlichen Dienst durch die strukturelle Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte und das Wirken der Schuldenbremse enger werden. Der finanzmarktgetriebene Kapitalismus setzt nach wie vor auf den Grundsatz: Anhäufung von gewaltigem privaten Reichtum in wenigen Händen bei gleichzeitiger Zunahme der öffentlichen Armut. Die andere Seite dieser Politik sind fehlende Mittel für wichtige öffentliche Infrastrukturleistungen, fehlende Kitaplätze, mangelhafter öffentlicher Personennahverkehr, Investitionsstau bei den Krankenhäusern, mangelnde Personalausstattung in der Bildung, Erziehung und Pflege. Auch die Wohlfahrtsverbände haben begriffen, daß sie in große Schwierigkeiten kommen, wenn die Einnahmeseite nicht erheblich verbessert wird. Hier können breite Bündnisse mit Eltern, Patienten, Einwohnern vor Ort geschlossen werden. Viele auch erfolgreiche Kämpfe gegen die Privatisierung von Krankenhäusern oder anderen öffentlichen Einrichtungen deuten an, was möglich wäre.

Die linken Kolleginnen und Kollegen bei der IG Metall sollten den Druck auf ihre Organisation, sich an dieser Kampagne zu beteiligen, entschieden erhöhen oder sich dafür einsetzen, daß ihre Basisorganisationen sich vor Ort beteiligen. Auch die Mitglieder der IGM sind Patienten, Benutzer des ÖPNV, ihre Kinder besuchen Kindertagesstätten oder Schulen, ihre Eltern müssen gepflegt werden. Kurz: Der Zustand der öffentlichen Daseinsvorsorge und der öffentlichen Infrastruktur entscheiden auch über ihre Lebensqualität. Sollte hinter der Zurückhaltung der IGM-Führung die Absicht stehen, dadurch eine bessere Verhandlungsposition mit einer möglichen großen Koali­tion für irgendwelche Konjunkturmaßnahmen (neue Form von Abwrackprämien oder ähnliches) zu bekommen, wäre das eine verheerende politische Fehlentscheidung, bei der erneut Sonderinteressen über die Gesamtinteressen gestellt werden.

Leider hat das Bündnis bisher versäumt, eine größere Dynamik in die Kampagne »Umfairteilen« zu bringen. Nach einem unter den bestehenden Bedingungen leidlich gelungenem Auftakt Ende September dümpelt die Kampagne doch etwas vor sich hin. Die Abstände zwischen den Aktionstagen sind zu groß, und es fehlt irgendwie der Pep. Es muß zum Ausdruck kommen, daß hier mit den Forderungen ernstgemacht wird und es keinesfalls am Willen fehlt, den dafür nötigen Druck zu machen. Positiv ist, daß für das nächste Jahr bereits dezentrale Aktionstage geplant sind und auch an eine Großdemonstration vor den Wahlen gedacht wird. Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß bei einer solchen Demonstration in Berlin oder gleichzeitig in mehreren Großstädten weit über 100000 Teilnehmer mobilisiert werden können, wenn jetzt schon klare Signale ausgesendet werden und die Kampagne vor Ort, in den Betrieben und Verwaltungen, umgesetzt wird.

Der Kampf um die Umverteilung kann die Gewerkschaften wieder stärker in die Offensive bringen. Ohne Politisierung der Mitglieder und ohne ernsthafte Mobilisierung ist das jedoch nicht zu haben. Gerade hier könnten auch die SPD und die Grünen unter Druck gesetzt werden. Auf dem Feld der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums findet der Lackmustest statt, ob die ganze Hinwendung zu einer sozial gerechteren Politik, für Mindestlohn usw. wirklich ernstgemeint ist oder wie so oft lediglich wahlstrategischen Charakter hat. Anstatt auf eine große Koalition zu spekulieren, könnte mit Hilfe der Linkspartei ein tatsächlicher Politikwechsel eingefordert werden.



Arbeitszeitverkürzung auf Agenda

Die Regulierungsfähigkeit der Arbeitszeit ist u.a. durch das Fehlen einer Arbeitszeitstrategie der Gewerkschaften dramatisch erodiert. Grob haben wir es mit folgenden Tendenzen der Deregulierung zu tun:

– Entgrenzung der Arbeitszeit, insbesondere bei den qualifizierteren Tätigkeiten und im Angestelltenbereich, befördert durch die vor über 20 Jahren eingesetzte Flexibilisierung der Arbeit und durch Methoden der indirekten Steuerung. Hier wird im Kern durch Anhäufung von Gleitzeitguthaben oder Arbeitszeitkonten die Arbeitszeit verlängert – durchaus nicht immer bezahlt.

– Auch bei vielen Beschäftigten im Niedriglohnbereich steigt die Arbeitszeit, getrieben von den sinkenden Reallöhnen und der Notwendigkeit, durch Überstunden oder einen Zweitjob das Einkommen aufzubessern.

– Gleichzeitig wächst die strukturelle Unterbeschäftigung, also unfreiwillige Teilzeit, Mini- und Midijobs. Sie sind maßgeblich dafür verantwortlich, daß nach wie vor die gesellschaftliche Arbeitsstundenzahl fällt. Millionen Menschen würden gern länger arbeiten, bekommen jedoch nur Teilzeitjobs oder geringfügige Beschäftigung angeboten, von der sie nicht leben können. Praktisch haben wir es hier mit einem permanenten Prozeß von Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich zu tun.

Zudem dürfen wir nicht vergessen, daß die Rente erst ab 67 eine weitere Niederlage auf dem Feld der Arbeitszeitpolitik darstellt, eben die Verlängerung der Lebensarbeitszeit.

Ebenfalls dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, daß die Massenarbeitslosigkeit noch lange nicht beseitigt ist. Wenn wir die vielen statistischen Korrekturen, die jedes Mal die Arbeitslosigkeit »sinken« ließen, herausrechnen, sind immer noch mehr als 4,5 Millionen Menschen erwerbslos. Bereits Ende des Jahres 2012 begannen erste Konzerne, die Vernichtung von Arbeitsplätzen anzukündigen, wie Siemens, Daimler, Metro, Zwangsurlaub bei MAN, Reduzierung der Schichten bei VW usw. Das sollte Anlaß für eine erneute Debatte zur Umverteilung von Arbeitszeit durch Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich sein. Auch bei der erneuten Debatte um die Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes handelt es sich ja um eine subventionierte Form der Arbeitszeitverkürzung. Es wird jedoch davon ausgegangen, daß sich die Kapazitätsauslastung wieder verbessern wird und zur »Normalität« zurückgegangen werden kann. Tatsächlich zeigt das Beispiel Opel, aber auch zwischenzeitlich Ford und Peugeot, daß in der Automobilindustrie gewaltige Überkapazitäten aufgebaut wurden. Es führt zu nichts, für das Desaster bei Opel hauptsächlich Managementfehler verantwortlich zu machen. Überkapazitäten können durch Standortschließungen und Arbeitsplatzabbau reduziert werden, aber eben auch durch Arbeitszeitverkürzung. Anstatt dem Gegeneinanderausspielen der Beschäftigten in den verschiedenen Standorten mehr oder weniger hilflos zuzusehen, wäre ein Projekt für eine europäischen Arbeitszeitverkürzung dringend notwendig.

Es ist also alles in allem höchste Zeit für eine neue Arbeitszeitauseinandersetzung, die so angelegt ist, daß sie die verschiedenen Gruppen und Interessen zusammenbringt. Statt der Trennung in überbeschäftigte »Normalarbeitende« und unterbeschäftigte und unterbezahlte Prekäre müßten wir eine begriffliche Neudefinition des Normalarbeitsverhältnisses finden, welche die verschiedenen Interessenlagen berücksichtigt. Es muß genügend Spielraum für eine Anpassung der Arbeitszeit an die individuellen Interessenlagen geben, z.B. Erziehungsphasen, Alterslagen usw. Immer mehr Menschen leiden unter der Zerrissenheit ihrer Lebensbedingungen, können kaum noch Kindererziehung, Partnerschaften, Freundschaften, Pflege der Eltern usw. in ihrem Lebensentwurf zusammenbringen. Hier ist eine gesellschaftlich-kulturelle Debatte erforderlich, die an das Bedürfnis, Arbeit und Leben, soziale und kulturelle Teilhabe auf einer gesicherten Grundlage zusammenzubringen, anknüpft.

Es wäre ein lohnendes Zukunftsprojekt für die Gewerkschaften, diese Debatte zu führen, um so die Auseinandersetzung um kürzere Arbeitszeiten überhaupt führen zu können. Der politische Wille, das zu tun, ist jedoch eine elementare Voraussetzung dafür.



Hilfreiche Einsicht

Die Gewerkschaften haben durchaus Chancen, aus ihrem zum Teil selbstgewählten Käfig des Pragmatismus herauszukommen. Es ist keine neue Erkenntnis, daß sie dafür ihr politisches Mandat ausüben müssen. Dafür braucht es konkrete Projekte, die über den Tag hinausreichen und die geeignet sind, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten, Erwerbslosen und Rentner nachhaltig zu verbessern. Dadurch verbessern sich auch die Bedingungen gewerkschaftlichen Handelns und gewerkschaftlicher Kämpfe. Die Einsicht, daß der Kapitalismus, und schon gar der finanzmarktgetriebene Kapitalismus, nicht das Ende der Geschichte sind, wäre dafür sicherlich hilfreich.


Bernd Riexinger


Bernd Riexinger war Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart
und ist jetzt Vorsitzender der Partei Die Linke.

Die Infoblog-Redaktion dankt der jungen Welt, insbesondere Dietmar Koschmieder, für die freundliche Genehmigung zum Abdruck des Textes von Bernd Riexinger. Er erschien dort am 8. Januar 2013.

http://www.jungewelt.de/2013/01-08/008.php
www.jungewelt.de









2 Kommentare:

  1. Der Kritik von Bernd Riexinger an Michael Sommer (DGB) und Berthold Huber (IG Metall) kann ich mich nur anschliessen. Anstatt im namen eines Standort-Nationalismus wieder irgendwelche Mauscheleien mit der herrschenden Klasse zu machen, sollte endlich eine Repolitisierung der lohnabhängig Beschäftigten vorangetrieben werden. Ziel: Generalstreik. Sonst zahlen wir bis in alle Ewigkeit für IHRE Krise.

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  2. Zur politisch einseitig-fragwürdigen Rolle des DGB passt auch folgende Meldung über die Nicht-Einladung der Linkspartei zur DGB-Bundesvorstandsklausur (Sommer will ja in den SPD-Bundesvorstand):

    "Der DGB-Bundesvorstand (will) ausschließlich mit Bundeskanzlerin Merkel, SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück und dem grünen Ministerpräsidenten Kretschmann über die inhaltliche Aufstellung des gewerkschaftlichen Dachverbands zur kommenden Bundestagswahl reden."

    Quelle: http://www.jungewelt.de/2013/01-16/043.php

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