Um das Streikrecht in Deutschland ranken sich viele Mythen, Halbwahrheiten und auch reinweg ideologische Lügen. Im folgenden soll kurz dargestellt werden, welchen Stellenwert der Streik aus juristischer Sicht in diesem Lande hat.
Gewerkschaft als das Recht, Vereinigungen zu bilden
In Gewerkschaftsschulungen bekommt man häufig beigebracht, daß es in Deutschland ein in der Verfassung garantiertes Streikrecht gäbe. Ein Blick in das Gesetz fördert die Rechtskenntnis, pflegen Juristen zu sagen. Schlagen wir nun das Grundgesetz auf, so ist ein Streikrecht dort nirgends zu finden. Geregelt ist dort im Artikel 9, Absatz 3, lediglich “das Recht, zur Wahrung und Förderung der Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen Vereinigungen zu bilden“. Auf Deutsch: Es ist erlaubt, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften zu bilden. Nicht mehr, nicht weniger.
Zum Verständnis der heutigen Rechtslage ist es sinnvoll, die geschichtliche Entwicklung zu betrachten: Am Anfang des 20. Jahrhunderts galten Streiks in Deutschland als erlaubt, solange sie nicht die Vernichtung des bestreikten Betriebes zum Ziel hatten. So entschied das Reichsgericht im Jahre 1906, daß Streiks nicht rechtswidrig sind, solange die Maßnahmen “nicht über dasjenige hinausgehen, was im Lohn- und Klassenkampf zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern als statthaft anzusehen ist.”
Diese Rechtslage galt im wesentlichen bis 1933. Daß unter der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland jedweder Streikversuch mit Zuchthaus oder Konzentrationslager beantwortet wurde, bedarf eigentlich keiner besonderen Erwähnung.
Streiks in der "freiheitlichsten Ordnung, die es je in Deutschland gegeben hat"
Wie sieht nun die Rechtslage seit Gründung der BRD aus? Sie sollte doch wohl relativ freizügig sein, leben wir doch angeblich in der freiheitlichsten Ordnung, die es je in Deutschland gegeben hat. Da müßten doch gegenüber der Situation von 1906 wesentliche Fortschritte erzielt worden sein.
Wie oben erwähnt, gibt es den weitverbreiteten Irrglauben, das Streikrecht sei in der Verfassung garantiert. Ursprünglich sollte das Streikrecht tatsächlich im Grundgesetz geregelt werden. Daß dies nicht geschehen ist, hat – kein Witz! – mit dem Kapp-Putsch von 1920 zu tun.
Im März 1920 versuchten der rechtsextreme Politiker Wolfgang Kapp und der General Freiherr von Lüttwitz sich an die Macht zu putschen. Der Putsch wurde durch einen landesweiten Generalstreik in die Knie gezwungen. (Im Ruhrgebiet kam es gar zur Bildung einer Roten Armee, die sich zum Großteil aus Mitgliedern der syndikalistischen Gewerkschaften und der linksradikalen Arbeiterunionen rekrutierte.) Niedergeschlagen wurde der Putsch jedoch im wesentlichen durch den allgemein im gesamten Deutschen Reich befolgten Generalstreik, der sich als äußerst scharfe Waffe der arbeitenden Bevölkerung erwies.
Im Jahre 1948 wurde von den drei westlichen Besatzungsmächten der Parlamentarische Rat initiiert, um ein Grundgesetz für die spätere BRD auszuarbeiten. Wie oben erwähnt, ist im Artikel 9, Absatz 3 das Recht auf Bildung von Gewerkschaften geregelt. Im Entwurf des Grundgesetzes hatte dieser Artikel noch einen vierten Absatz. Dieser lautete:
“(4) Das Recht der gemeinschaftlichen Arbeitseinstellung zur Wahrung und Förderung der Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen wird anerkannt. Seine Ausübung wird durch Gesetz geregelt.“
Konservative gegen politische Massenstreiks
Ein in der Verfassung verankertes Streikrecht stieß natürlich auf erheblichen Widerstand bei den Konservativen, und so malten sie die Gefahr politischer Massenstreiks an die Wand. Ausdrücklich wurde dabei der Generalstreik, der zum Mißlingen des Kapp-Putsches führte, zur Sprache gebracht. So meinte der Abgeordnete Kaufmann (CDU) bezüglich des vierten Absatzes: “Das Recht, politische Streiks zu machen, darf hier nicht eingeschlossen sein. Ich weiß, daß man bei den Besprechungen … auf die bekannten Vorgänge beim Kapp-Putsch hingewiesen hat.” Weiter warnte Kaufmann vor Streiks der Angestellten im öffentlichen Dienst: “Sonst würden wir in ein Durcheinander geraten, das nicht nur die Versorgungsbetriebe lahmlegt, oder unter den Willen einer beliebigen Streikleitung bringt, sondern auch unsere ganze staatliche Ordnung … auf den Kopf stellen kann.”
Deutliche Worte! Die Damen und Herren Arbeitnehmer könnten die schöne staatliche Ordnung durcheinanderbringen! Das überzeugte dann auch die SPD. Deren Abgeordneter Dr. Eberhard beantragte dann die Streichung des Streikrechtes aus dem Grundgesetz. So ganz wohl kann ihm dabei jedoch nicht gewesen sein, denn irgendwie mußte er wohl den Zorn seiner Parteimitglieder an der Basis gefürchtet haben. Er meinte, daß damit keinesfalls “Streiks aus dem gesellschaftlichen Leben beseitigt werden könnten. Im Gegenteil.”
Er sollte sich geirrt haben. Denn weil eine gesetzliche Regelung nicht gegeben war, sollten später findige Juristen eine nahezu vollständige Abschaffung des Streikrechtes herbeiführen.
Die "herrschende Meinung" im Arbeitsrecht: Keine Stunde Null nach 1945
Im Jahre 1952 streikten die Zeitungsdrucker zwei Tage lang gegen die Einführung des arbeitnehmerfeindlichen Betriebsverfassungsgesetzes. Die Verlage verklagten die Druckergewerkschaft auf Schadensersatz. Hierbei ließen sie durch einen prominenten Arbeitsrechtler der Nazi-Zeit ein Rechtsgutachten anfertigen, daß die Rechtsprechung – im Juristenjargon heißt das ganz unverblümt “herrschende Meinung” – bis heute prägt. Hans Carl Nipperdey, später Präsident des Bundesarbeitsgerichtes, fand eine Möglichkeit, Streiks mit Tötung, Körperverletzung und Sachbeschädigung gleichzustellen.
In demjenigen Gesetzesparagraphen, der Schadensersatz bei Tötung, Körperverletzung und Sachbeschädigung regelt (§ 823 BGB), ist nämlich auch von der Schädigung eines “sonstigen Rechts” die Rede. Und ein derartiges “sonstiges Recht” zauberte Nipperdey vor dem staunenden Publikum aus dem Hut: Das “Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“, auch “Unternehmensrecht” genannt.
“Nipperdey ging nun in seinem Gutachten davon aus, jeder Streik sei eine Verletzung dieses Unternehmensrechts, eine Verletzung, die erst einmal zur Vermutung der Rechtswidrigkeit des Streiks führe und deshalb eine Schadensersatzforderung begründe. Um das wieder auszugleichen, brauchte er den Begriff der sozialen Adäquanz. Der Streik soll dann nicht rechtswidrig sein, wenn er sozial adäquat, mit anderen Worten: gesellschaftlich angemessen ist. Und dafür haben Nipperdey und das Bundesarbeitsgericht ihren Katalog aufgestellt, im wesentlichen mit drei Forderungen. Gesellschaftlich angemessen ist ein Streik, wenn er erstens von einer Gewerkschaft, zweitens zum Zwecke des Abschlusses eines Tarifvertrages und drittens unter Einhaltung der Friedenspflicht geführt wird.” (Uwe Wesel, Fast alles, was Recht ist. Jura für Nicht-Juristen, Frankfurt /M 51996 (Eichborn Vlg.), S. 351 f.)
Diese drei Kriterien klingen zwar erstmal ganz folgerichtig und beinahe selbstverständlich, sind es bei näherem Hinsehen keineswegs. Gestreikt werden darf nur mit dem Ziel, über einen Tarifvertrag eine Friedenspflicht zu vereinbaren. Zugespitzt: Streiks dürfen nur die Verhinderung weiterer Streiks zum Ziel haben, ansonsten sind sie rechtswidrig. Zudem dürfen sie nur von anerkannten Gewerkschaften geführt werden.
Es ist also kein Wunder, daß man in den Medien selten von Streiks in Deutschland hört; während es in Spanien oder Frankreich beinahe schon Tagesgeschäft ist. Selbst im friedlichen Schweden wird mehr gestreikt als hierzulande. (Und das bei nur 8 Mio Einwohnern.)
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Eine Lektüre-Empfehlung der Infoblog-Redaktion zum Thema:
Lucy Redler: Politischer Streik in Deutschland nach 1945, Neuer Isp-Verlag 2007.
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Ja, das ist jetzt irgendwie verunsichernd und deprimierend.
AntwortenLöschenDa fehlt mir die positive Wende, in dem Sinne, wie kann man politische Streiks durchsetzen, wie kann man das Streikrecht verbessern, verankern, welche Partei sollten wir wählen, um das zu erreichen ?
Frank Bsirske schrieb am 12.11.2010 im Neuen Deutschland einen guten Artikel mit ähnlicher Zielrichtung:
AntwortenLöschen"In ganz Europa haben Beschäftigte das Recht auf politische Streiks. Es gibt nur drei Ausnahmen: Großbritannien, Dänemark und Deutschland. Das deutsche Verbot stammt von 1955 und basiert auf der damaligen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Inzwischen ist die Situation völlig anders: Viele politische Entscheidungen haben erheblichen Einfluss auf die »Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen«, deren »Wahrung und Förderung« durch die Gewerkschaften Artikel 9 Grundgesetz ausdrücklich schützt. Sich gegen politisch verursachte Verschlechterungen ihrer Arbeits-, Beschäftigungs- und Lebensbedingungen zu wehren, ist das gute Recht aller Arbeitnehmer.
In diesen Wochen protestieren in Betrieben, Verwaltungen und auf der Straße mehr als drei Millionen Menschen gegen eine sozial ungerechte und einseitige Kürzungspolitik. Sie wehren sich gegen die Kopfpauschale, die Rente mit 67 und gegen Unternehmen, die Menschen fast nur noch befristet einstellen und immer mehr sozial ungeschützte Leiharbeiter beschäftigen. Sie sehen die Verarmung vieler Menschen, die arbeiten und dennoch von ihrem Lohn nicht leben können. Sie wissen: Gerecht geht anders! Während der Bundesfinanzminister plant, Unternehmen ganz oder teilweise von der Gewerbesteuer zu entlasten, verbünden sich die Beschäftigten mit den Räten und Oberbürgermeistern vieler Städte, die sich in akuter Not befinden und mit immer neuen Sparhaushalten die Bürger belasten. Diese Aktionen stoßen bei Union und FDP und anderen Wirtschaftslobbyisten nicht auf Wohlwollen. Politischer Protest stört ihre Kreise – in Stuttgart, in Gorleben, in den Betrieben und Verwaltungen. Merkel und Co. wollen ihre Entscheidungen durchziehen.
Doch der Protest wird weitergehen, auch in den Betrieben. Lenin hat gespottet, bevor die Deutschen einen Bahnhof stürmen, kaufen sie eine Bahnsteigkarte. Ein Greenpeace-Aktivist hat vor Gorleben gesagt, man werde am Ende die Castoren nicht aufhalten, aber den Fahrplan von Schwarz-Gelb durcheinander bringen. Die Gewerkschaften und ihre Bündnispartner wollen nicht nur den Fahrplan durcheinanderbringen, sondern dass der Zug eine andere Richtung nimmt. Bahnsteigkarten sind in Deutschland abgeschafft.
Es muss viel mehr Druck auf die Gewerkschaftspitzen ausgeübt werden, besonders auf Leute wie Huber (IG Metall)und Sommer (DGB).
AntwortenLöschenDas bei uns herrschende Arbeitsrecht ist von Leuten wie Nipperdey mitformuliert worden, die keine Freunde der lohnabhängig Beschäftigten sind. Das muss nicht für alle Ewigkeit so sein. Dafür ist politischer Druck notwendig. Dafür muss sich auch einiges innerhalb der Gewerkschaften ändern. Durch Druck von unten.
Die einzige Partei mit Massenbasis, die noch halbwegs gewerkschaftliche Positionen vertritt und auch für politische Streiks eintritt ist - bei aller Kritik - für mich die Linkspartei.
AntwortenLöschenEs ist deshalb ein unglaublicher Skandal, dass zur Klausurtagung des DGB-Bundesvorstandes Vertreter der Hartz-4-Parteien wie CDU,SPD und Grüne eingeladen werden, nicht aber jemand wie Bernd Riexinger.
Es ist doch nicht verwunderlich, wenn Befürworter der Hartz-"Reformen" (DGB-Bundesvorstand) ihre Freunde einladen.
LöschenDer Unterschied zwischen einer Hugendublerin und einem Hartz-IV-Empfänger? –
Löschen15 Monate!
3 Monate Kündigungsfrist,
12 Monate Arbeitslosengeld I.
www-politischer-streik.de
AntwortenLöschenLafontaine über politischen Streik anläßlich der Generlastreiks vom 14. November 2012 in mehreren Ländern:
AntwortenLöschen„Ein europaweiter Generalstreik ist notwendig”, schreibt der frühere Linkspartei-Vorsitzende Oskar Lafontaine, der numehrige Fraktionsvorsitzende seiner Partei im Saarländischen Landtag, in der „taz”. Hinsichtlich der für den 14. November in Portugal, Spanien und womöglich auch in Griechenland und anderwo in Europa geplanten Generalstreiks und den in mehreren Ländern ins Auge gefassten, begleitenden Solidaritätsaktionen und Protesten “fordert” Lafontaine": Alle Europäer sollten am kommenden Mittwoch die Arbeit niederzulegen. Eine solche, sozusagen konzertierte Aktion böte die Chance die brutale Politik der Umverteilung von unten nach oben, die volkswirtschaftlich letztlich schädlichen Austeritätsbeschlüsse allerorten zu stoppen und die Fehlentscheidungen von Parlamenten rückgängig zu machen.
http://www.freitag.de/autoren/asansoerpress35/oskar-lafontaine-europaweiter-generalstreik