Mittwoch, 9. Januar 2013

Good news are bad news

Ein Kommentar

Am 31.Dezember 1986 passierte ein Mißgeschick bei der TV-Neujahrsansprache von Bundeskanzler Helmut Kohl:  statt der aktuellen Aufzeichnung wurde die Rede vom Vorjahr 1985 gesendet.
Ob es sich um ein Versehen handelte, weil vielleicht ein Techniker zu tief ins Sektglas geblickt hatte oder ob sich ein Redakteur einen Scherz erlaubt hatte - Kohl soll getobt haben. Dabei dürfte es den meisten ZuschauerInnen gar nicht aufgefallen sein: es waren die gleichen Phrasen wie immer gewesen,
the same procedure as every year.

Bei der diesjährigen Neujahrsansprache von Bundeskanzlerin Merkel glaubte man ebenfalls seinen Ohren nicht zu trauen, als sie von "niedrigster Arbeitslosigkeit",  "höchster Beschäftigung", einer "sicheren Zukunft" für "viele hunderttausende Familien" und von der Aussicht "für unsere jungen Menschen die Sicherheit, eine Ausbildung, einen Arbeitsplatz und damit einen guten Start ins Leben zu haben".

War etwa schon wieder eine Panne passiert?

Hatte man versehentlich eine Kassette aus den siebziger Jahren eingelegt, als man als lohnabhängig Beschäftigter noch keinen Zweitjob brauchte, nicht als "Kunde" von einer nach einem vorbestraften Wirtschaftskriminellen benannten Arbeits-"Agentur" schikaniert wurde, als man noch keine Studiengebühren bezahlen mußte und beim Zahnarzt nur vor dessem Bohrer, aber nicht vor seiner Rechnung Angst haben mußte?

Nein, eine Panne konnte es nicht sein. Angela Merkel war zu diesem Zeitpunkt ja noch FDJ-Mitglied und dort als Kulturreferentin zuständig für Agitation und Propaganda. (Und das wird jetzt die Zuschauer von Guido Knopp und die Fans von Hubertus Knabe irritieren: sie bekam als Pfarrerstochter, die die obligatorische staatliche Jugendweihe verweigert hatte, einen Job am Zentralinstitut für physikalische Chemie (ZIPC) der Akademie der Wissenschaften der DDR).

Es mußte sich also tatsächlich um die Neuahrsansprache der aktuell amtierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 31. Dezember 2012 für das Jahr 2013 handeln! Wie das?

Die »Einkommensarmut« stieg in der Bundesrepublik zwischen 2004 und 2009 stärker als in jedem anderen EU-Land mit Ausnahme Spaniens. Die Ausdehnung der Minijobs ist seit 2006 fast ausschließlich darauf zurückzuführen, daß Beschäftigte einen Zweit- oder Drittjob ausüben müssen, um durchzukommen.
Nach den jüngsten WSI-Berechnungen lag die Bruttolohnquote, also der Anteil der Beschäftigten in der damaligen Bundesrepublik am sogenannten Volkseinkommen, 1980 bei 75 Prozent. Nicht zuletzt der DDR-Anschluß und die Eröffnung einer Niedriglohnzone brachte bereits 1991 eine Senkung auf 70,8 Prozent, im Jahr 2011 lag er bei 66,9 Prozent.

8 Millionen Menschen sind im Niedriglohnsektor beschäftigt, 2,5 Millionen Kinder leben in Armut.
Wer arm ist - so sagen es neuere soziologische Studien - bleibt arm.

Wie kommt also so eine Hymne auf die eigene Politik zustande, vor der sogar Orwells Wahrheitsministerium erblassen dürfte? Ganz einfach: indem man sich die Wirklichkeit so zurechtlügt, wie man es in Orwells 1984 nachlesen kann. Man fälscht z.B. die Arbeitslosenstatistik oder den Armutsbericht.
Und das ganze wird über eine "freie" Presse (die Großkonzernen gehört) und "öffentlich-rechtliche" Medien in alle Haushalte verbreitet.

Wenn Angela Merkel also eine "sichere Zukunft" und CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe Vollbeschäftigung als »zentrales Ziel« und als Wahlkampfschlager ankündigte, dann ist das als eine Drohung zu verstehen:  Mehr Armut, mehr Drecksjobs, mehr Kriege.

Denn wie heißt es in 1984:

"Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei und Unwissenheit ist Stärke!"

4 Kommentare:

  1. Sehr schöner Text! Es lohnt sich wirklich, hier regelmäßig reinzuschauen. Bravo!

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  2. Diesen Text kann mensch nicht kommentieren - er ist einfach Klasse!

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  3. Brillant. Ganz ohne Ironie: man müßte jetzt aber auch schauen was Linker Konservatismus ist, welche Positionen er vertreten sollte, auf welche Vorgänger er sich berufen sollte usw; s.a. Wagenknecht und Ludwig Erhard. Offensichtlich verschieben sich momentan politisch ein paar Koordinaten. Wie könnte man aus dem Mehrheitswillen der Bevölkerung eine stabile politische Agenda formen ohne linke essentials preiszugeben? Eine neue Bürgerlichkeit etablieren und daran möglichst viele teilhaben lassen?

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  4. Der Begriff "Linker Konservatismus" ist für Dich anscheinend eher positiv besetzt. Mich erinnert er eher an die Position einiger Gewerkschaftsfunktionäre, die sich von der WASG-Gründung eine Re-Sozialdemokratisierung der SPD erhofft haben, verbunden mit einer Wiederherstellung der sozialen Marktwirtschaft der siebziger Jahre. Dieser Kompromiß wurde allerdings von der Kapitalseite unwiederruflich aufgekündigt (und ironischerweise von der Schröder-SPD politisch ausgeführt).

    Leider sehe ich den Begriff "Neue Bürgerlichkeit" ebenfalls als problematisch an. Im Kern wird er gespeist aus der Abstiegsangst und dem Abgrenzungswillen der Mittelschicht gegenüber der Unterschicht. Es ist auch kein Zufall, wenn ein Protagonist dieser Richtung wie Paul Nolte im liberal-konservativen Umfeld angesiedelt ist.

    Und zur neuen Wagenknecht-Erhard-Connection: statt krampfhaft nach Bezugspunkten bei einem der zentralen Figuren des Ordoliberalismus zu suchen, der ein Feind jeder linken Perspektive ist, sollte sich Wagenknecht lieber an Wolfgang Abendroth, einem anderen Theoretiker der sechziger Jahre orientieren und konsequente Oppositionspolitik machen

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