Samstag, 13. Juni 2015

Kulturnotizen eines Sonntagsdenkers

Was unsere Zeit und ihren Ungeist betrifft, pflegen kluge Köpfe, die aus der um sich greifenden Not eine intellektuelle Tugend gemacht und der Zukunft der Menschheit den Totenschein ausgestellt haben, länger schon von der >Posthistorie< und einem >Ende der Geschichte< zu sprechen, andere von einer >Social Acceleration< - womit in summa wohl dies gesagt ist: dass in der Welt zwar heute nichts mehr passiert, aber dafür immer schneller. Solche ein rasendes Nichts jedoch (und noch dazu eines, das es womöglich gar nicht gibt) wird schwerlich aufzuhalten oder einzuholen sein, indem man ihm hinterher jagt – oder hinterher denkt.

Hat sich eigentlich schon mal wer gefragt, warum es zwar Sonntagsfahrer oder Sonntagschristen gibt, aber keine Sonntagsdenker. Ganz einfach, so möchte man meinen: gedacht wird immer – sogar an Werktagen! Während auf unseren Straßen jedoch täglich und stündlich nicht nur anderen nachgefahren, sondern ihnen auch vorausgefahren oder jemand überfahren, umgefahren und angefahren wird, sind Vorausdenken, Überdenken und Umdenken eher selten – und Andacht noch seltener als Christen. Wer denkt, und gedacht wird ja immer, denkt meist nur nach – und zwar das, was ihm andere vorgedacht haben. Sollten manche von uns es anders halten, behindern sie unnötig den ganzen Gedankenfluss und Denkverkehr. Solche Leute müsste man dann folgerichtig >Sonntagsdenker< nennen.


Der Sonntagschrist hingegen legt im Unterschied zum Sonntagsdenker wie auch zum Sonntagsfahrer Tempo vor. In letzter Zeit tendiert er immer stärker dazu, die formale Voraussetzung seiner logischen Existenz zu untergraben: den Sonntag. So ist es ihm inzwischen benahe zur zweiten Natur geworden, langsam aber sicher auf dessen Aushöhlung, Aufhebung, Abschaffung und saubere Entsorgung hinzuarbeiten – oder es denn sein muss, sogar freiwillig und mit Gehaltszuschlägen! Das Christlichsoziale spielt für den waschechten Sonntagschristen dabei keine weniger geringe Rolle als etwa das Sozialdemokratische für den weichgespülten Alltagssozi.

Verfluchter Mist aber auch, dass ausgerechnet der liebe Gott, der es doch besser hätte wissen können – auch nur einen einzigen Wirtschaftsexperten oder Unternehmensberater hinzuzuziehen – das Gebot erlassen und in Stein gravieren musste:

Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinen Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der innerhalb deine Tore wohnt. (Ex 20, 8-10)

Damit war nicht nur ein Wochenfeiertag eingeführt. Zugleich hat der liebe Gott (da verbatim ja von einem >Ruhetag< die Rede ist) allen, die arbeiten, unabhängig vom gesellschaftlichen Status, Alter und Geschlecht, nämlich regelmäßig wiederkehrende Erholungszeiten zugesichert – und hierbei sogar noch Haustiere und Beschäftigte mit Migrationshintergrund berücksichtigt.

Dass ein solcher sozialer Rundumschlag ökonomisch und theologisch nicht ohne Konsequenzen bleiben, ja früher oder später zwangsläufig zu erheblichen Problemen führen würde, hätte ihm als liebem Gott eigentlich klar sein müssen. Doch siehe da: statt sich noch irgendwie zu korrigieren und irgendwas zu deregulieren – etwa mit der Ansage: „Sorry, Leute! Ist mir bloß so rausgerutscht! Leider gibt es Sachzwänge, die dem entgegenstehen“ – macht er denselben dummen Offenbarungsfehler gleich zweimal. Also wird in der Bibel das Sabbatgebot samt Arbeitsverbot an anderer Stelle wiederholt (Dtn 5, 12-14b) – und um einen erläuternden Zusatz ergänzt, der an der menschenfreundlichen Absicht des Legislatoren keinen Zweifel mehr lässt:

Dein Sklave und deine Sklavin sollen sich ausruhen wie du. Denk daran: Als du in Ägypten Sklave warst, hat dich der Herr, dein Gott mit starker Hand und hoch erhobenem Arm dort herausgeführt. Darum hat es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht. (Dtn 5, 14c-15)
Nun ist zwar der christliche Sonntag mit dem jüdischen Sabbat nicht identisch. Für Christen dreht sich alles um Jesu Auferstehung. Die fand – weil Pontius Pilatus, als er unseren Heiland kreuzigen ließ, irgendwie ein miserables Timing hatte – jedoch nicht am siebten, sondern am ersten Tag der jüdischen Woche statt. Und der sogenannte Herrentag, an dem sie gefeiert wurde, unterlag auch nicht notwendig der strengen Observanz des alttestamentlichen Zeremonialgesetzes. So begann im Jahr 321 unter Konstantin dem Großen mit der Einführung dieser >dies dominica< im Römischen Reich bereits die Geschichte ihrer Aufweichung – nach der Devise: die Ausnahme bestätigt die Regel. In seinem Grundbestand wurde das Gebot der Sonntagsruhe aber eher selten in Frage gestellt – und auch seine >sabbatale< Interpretation als Regel, die keine oder kaum eine Ausnahme duldet, gewann immer wieder an Boden. Es ist über die Jahrhunderte – trotz aller Angriffe und Einschnitte, Rückschläge und Tiefpunkte – zu einem wertvollen Stück abendländlicher Zivilisation geworden, das sich nicht ohne Grund bis heute erhalten hat und sich aus unserem Leben schwer wegdenken lässt.

Um den arbeitsfreien Sonntag ausreichend würdigen und – wichtiger noch – genießen zu können, muss man kein Christ sein. Es genügt, ein Mensch zu sein, der Zeit haben möchte, zur Ruhe zu kommen und sich von seiner Arbeit zu erholen oder sich den (übrigen!) schönen Dingen des Daseins zu widmen – und was zweifellos am meisten zählt: einen festen Lebensrhythmus, der ihm Halt gibt und ihn davor bewahrt, dass ein Tag vorüberrauscht wie der andere!

Dass eine solche Spezies von praktizierenden Durchschnaufern und pausierenden Sonntagsdenkern freilich nur schlecht ins Weltbild des totalen Turbokapitalismus passt, versteht sich. Mit dem Sonntag als Besinnungszeit hätte vielleicht Nietzsches Übermensch etwas anfangen können – der wirtschaftlich rentable Homo Ökonomikus von morgen wird keinen mehr brauchen. Denn für ihn soll der >ewige Sabbat< einer neuen Ära anbrechen. Sein ganzes Leben soll ein einziges, großes Fest – sorry: Event! – sein: ausgefüllt von Kommerz und Konsum. Deswegen wohl sehen die >Vordenker< in Wirtschaft und Politik auch eine so wichtige Aufgabe darin, die >Nachdenker< heute schon an die Vorstellung zu gewöhnen, dass kein Feiertag sich feierlicher begehen lässt als durch Arbeit und Shopping! Was Wunder, wenn verblüffte Gewerkschafter und Betriebsräte immer wieder vergeblich einwenden, dass verkaufsoffene Sonntage aufgrund fehlender Kaufkraft erfahrungsgemäß wenig einbringen! Sie verkennen den pseudoreligiösen Charakter der Veranstaltung: hier geht es um mehr als Profit; hier geht es um das Prinzip der absoluten Profitorientierung selbst.

Aber wieso – könnte man fragen – steht eine soziale und kulturelle Errungenschaft wie der Sonntag ausgerechnet jetzt wieder unter Beschuss, da Kultur in aller Munde ist? Sollte das nicht die Vor- und Nachdenker des >cultural turn< und des >clash of civilisations< mit seinen Kulturkriegen und PEGIDA-Demos allesamt auf den Plan rufen? – Weit gefehlt!- In der posthistorischen Beschleunigungsgesellschaft hat selbst der militanteste Kulturalismus westliche Werte und heiligste Güter (soweit sie nicht ohnehin auf jenes rasende Nichts hinauslaufen, das es womöglich gar nicht gibt) schnell, schneller, schnellstens abgeschrieben, wenn bloß der leiseste Hauch einer winzigklitzekleinen Nanochance besteht, Umsatz zu generieren.

Aber wir müssen (gottseidank: noch!) nicht jeden Quatsch, der gerade ganz groß angesagt ist, mitmachen – und den mit den Sonntagsöffnungen schon gleich überhaupt nicht! Die Antwort der Beschäftigten und Betriebsräte hierauf kann nur ein NEIN sein! Und wirft man uns deshalb wie gewöhnlich vor, im allgemeinen Weltendrama das retardierende Moment zu spielen, sollten wir dies als Lob auffassen!

Jürgen Horn



2 Kommentare:

  1. Watn dit fürn sakralet Jequatsche?

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    1. Muss den Kommentar jemand verstehen?
      Soll das jemand verstehen?
      In Bayern sollte die CSU und SPD die "Kulturnotizen eines Sonntagsdenkers" verstehen. Und jeder der einen Tag in der woche zum Chillen braucht.

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