Dienstag, 24. Juni 2014

Brot oder Spiele?

Eine Bücherschau zum Thema "Brasilien"

Brot und Spiele war in der Antike das bewährte Rezept zur Ruhigstellung der Massen. In Brasilien, wo jeder vierte Einwohner unterhalb der Armutsgrenze lebt, glaubte die politische Klasse, dass WM statt Brot ausreichen würde. Man baute überdimensionierte Stadien, die nach den Spielen großteils leer stehen werden und kürzte dafür an Bildung und Sozialem. Dagegen formierte sich bereits beim Confederations Cup im vergangenen Jahr Protest, als es zu Streiks gegen Preiserhöhungen im Nahverkehr kam. Mit Beginn der WM  steigerte sich der Widerstand gegen korrupte Verhältnisse nochmals.

 

Fußball spielte in der brasilianischen Gesellschaft schon immer eine große Rolle. Wir stellen im folgenden einige Sachbücher und Romane über dieses "Land der Zukunft" vor, wie es der Emigrant Stefan Zweig in seinem 1941 erschienenen gleichnamigen Buch einst genannt hat.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung konnte einige Autoren und Brasilien-Kenner gewinnen, um im VSA-Verlag das Buch "Fußball in Brasilien: Widerstand und Utopie" herauszubringen, das sich mit sozialen Aspekten des brasilianischen Nationalsports beschäftigt, z.B. mit der Rolle der FIFA und der zunehmenden Kommerzialisierung.

Eine weit über Brasilien hinausgehende Geschichte des Fußballs schrieb der uruguayische Historiker und Journalist Eduardo Galeano mit seinem Sepp Herberger zitierenden Buch-Titel "Der Ball ist rund":



Der Original-Titel seines Buches "El futbol a sol y sombra"- also Fußball zwischen Licht und Schatten - zeigt die Stoßrichtung: Galeano läßt nicht nur seiner Faszination für diesen Sport freien Lauf, sondern auch seiner Wut über die grassierende Profitsucht: "Die Geschichte des Fußballs ist eine traurige Reise von der Lust zur Pflicht. In dem Maße, wie dieser Sport zur Industrie geworden ist, hat er immer mehr die Schönheit verbannt, die aus der reinen Freude am Spiel entsteht", schreibt er gleich zu Beginn.

Eduardo Galeano dürfte den Leserinnen und Lesern in Europa eher durch ein anderes Buch bekannt sein:
"Die offenen Adern Lateinamerikas", erstmals 1971 erschienen, ein Klassiker der lateinamerikanischen Geschichtsschreibung, der sich mit den Folgen älterer und neuerer Kolonialherrschaft für den Kontinent auseinandersetzte. Galeano war kein Schreibtisch-Autor, sondern wußte, wovon er schrieb: als politischer Aktivist flüchtete er vor der uruguayischen Militärdiktatur ins Exil. Uruguay war in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts beileibe nicht die einzige Diktatur in Mittel- und Südamerika.

In Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Guatemala, Honduras, Kolumbien, Nicaragua, El Salvador, Paraguay, Peru und Venezuela herrschten zeitweise Militärdiktaturen, fast alle mit Unterstützung der USA, die heute als weltweiter Verteidiger der Menschenrechte auftritt:






Die Geschichte der Repression in Lateinamerika ist auch eine Geschichte des Widerstands gegen diese Repression. Ein neues Buch über "Widerständigkeiten im Land der Zukunft" aus dem Unrast-Verlag verdeutlicht dies am Beispiel Brasilien. Historische Analysen kontrastieren hier aktuelle Bestandsaufnahmen und Ausblicke in die Zukunft. Die betrachteten Widerstandsformen erstrecken sich von Straßenprotesten über Musik, Literatur, Fußball und Capoeira hin zu Streetart und Urban Gardening.



Widerständigkeiten im 'Land der Zukunft'


Der Dokumentarfilmer Peter Overbeck, ein früher Globalisierungsgegner und Weltbürger zugleich, blickt in seinem Buch "Gott ist ein Brasilianer" auf ein aufregendes und mutiges Leben zurück. Noch im letzten Kriegsjahr als Soldat eingezogen, will er nach der Rückkehr aus der russischen Gefangenschaft vom Grauen nichts mehr sehen – und studiert Malerei. Anfang der fünfziger Jahre wandert er mit seinen Eltern und seiner schwangeren Ehefrau nach Brasilien aus. Mit seiner Arbeit als Kameramann beginnt auch sein politisches Engagement während der Militärdiktatur. Die junge Familie organisiert Quartiere, Kurierdienste und Passfälschungen für die Guerilla.




1971 übersiedeln die Overbecks nach Chile, der mit Allende aufkeimenden Hoffnung folgend. Nach dem Putsch von 1973 zieht es Overbeck erneut in den Widerstand und er wird Mitglied der MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria), einer kommunistischen Organisation. Sein Buch "Santiago, 11. September" erzählt packend vom Putsch Pinochets.




Santiago, 11. September - Overbeck, Peter


Nach seiner Flucht nach Deutschland geht er 1977 wieder nach Brasilien und dreht mit seiner zweiten Frau Ruth, einer tschechoslowakischen Jüdin aus Chile, zahlreiche Dokumentarfilme. Zum Teil unter Lebensgefahr entstanden, zeigen sie den Kampf der Ärmsten der brasilianischen Bevölkerung: gewerkschaftlich organisierte Zuckerrohrschneider; landlose Bauern, die brachliegendes Konzernland besetzen; Altmaterialsammler in São Paulo, die eine Kooperative gegründet haben. Die Filme werden zur Aufklärung und Schulung eingesetzt, um ähnliche Projekte zu unterstützen.

Seit 1994 leben Ruth und Peter Overbeck in einem Kibbuz in Israel – ausgerechnet in Megiddo, dem biblischen Armageddon. Hier sind sie in der Friedensbewegung aktiv.
 
 
Machen wir mit Luiz Ruffato und seinem Roman "Es waren viele Pferde" einen Sprung in die brasilianische Gegenwart:

Cover: Es waren viele Pferde


Luiz Ruffato schafft in 69 kaleidoskopisch-kinematografischen Szenen durch die Metropole Sao Paulo.
Die verschiedenen Stimmen und  Schlaglichter fügen sich zur Geschichte eines Landes, das von Gewalt und Entwurzelung gezeichnet ist. Jede der Geschichten hat eine eigene Stimme, einen eigenen Ton, eine eigene soziale Färbung. Mit fast paranoider Präzision gelingt es Luiz Ruffato, den Klang, die Gerüche, die Farben, die Angst der 22-Millionen-Stadt poetisch exakt zu erfassen und zu dem verstörenden Porträt einer zerrissenen Gesellschaft zusammenzusetzen.


Aber auch Luiz Ruffato - und damit kehren wir wieder an den Ausgngspunkt zurück - ist vom Fußball fasziniert. Er ist nicht nur gefeierter Romanautor, sondern auch Herausgeber der Anthologie "Der schwarze Sohn Gottes", in der 16 brasilianische Autorinnen und Autoren über Fußball schreiben:

Cover: Der schwarze Sohn Gottes 


Die Texte der AutorInnen zeigen eindrucksvoll, daß das Phänomen Fußball mit den darauf projizierten Träumen, Hoffnungen und Wünschen trotz aller Härten des Alltags, politischer Korruption und Enttäuschungen des Lebens nicht kaputt zu kriegen ist.

Und es enthält nicht zuletzt den Trost, daß auch Fußballnieten durchaus imstande sind, ein glückliches Leben zu führen.

2 Kommentare:

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