Montag, 18. Juni 2012

"Wir Schriftsteller brauchen Euch!" (2012) - reloaded






Liebe Buchhändlerinnen und Buchhändler,

in Don De Lillos „Mao II“, einem der wichtigsten amerikanischen Romane der 90er Jahre, stolpert ein verdreckter Mann mit zerrissener Jacke, gewaltiger Mähne und Schrammen im Gesicht in den Laden einer Buchhandelskette in New York. Die Kunden bleiben sofort wie angewurzelt stehen zwischen den Bücherstapeln, Stufengestellen, in Serie aufgereihten Bestsellern mit ihren reißerischen „Kauft mich!“-Umschlägen. Ein Aufpasser nähert sich, um den Mann aus dem Laden zu bugsieren, bis der ihm sagt, er sei da, um seine Bücher zu signieren.

Von Anfang an, seit die Filialen der Buchhandelsketten überall aus dem Boden schossen, habe ich befürchtet, dass hier ein Prozess losgetreten wird, der nicht nur die kleinen Buchläden nebenan zur Aufgabe zwingen würde, sondern mit der Zeit die ganze Buchkultur in seiner Substanz beschädigen könnte. Mir war klar, eine Übertragung der Discounter-Mentalität auf das Buchgeschäft – nach dem Prinzip: palettenweise immer kleinere Sortimente mit gut verkäuflicher Ware – würde unsere vielfältige literarische Landschaft auf Dauer in eine Monokultur schnelllebiger, geistig und künstlerisch mittelmäßiger bis minderwertiger Produkte verwandeln. Inzwischen sind wir fast so weit.

Als die Entwicklung begann, wurde mir von Leuten aus dem Literaturbetrieb immer wieder der Hugendubel am Marienplatz als Gegenbeispiel für meine Befürchtungen genannt. Und tatsächlich gab es dort in den 90ern noch richtige Abteilungen für Literaturzeitschriften oder zeitgenössische Lyrik. Ich weiß noch, wie stolz ich als junger Mann darauf war, dass dort regelmäßig die „Konzepte“ auslagen, zu deren Redaktion ich gehörte – eine Zeitschrift mit einer Auflage von 500 Exemplaren, in der aber damals noch unbekannte Autoren wie Marcel Beyer, Thomas Kling, Michael Lentz oder Durs Grünbein veröffentlichten. Ketten wie Hugendubel, sagte man mir, leisten, was die kleinen Läden nicht mehr leisten können: Sie retten das literarische Leben.

Davon kann heute natürlich keine Rede mehr sein. Vorgestern lief ich zum ersten Mal seit Jahren wieder durch das Geschäft am Marienplatz. In der Literatur-Abteilung, wo früher die Hardcovers standen, gibt es jetzt jede Menge Krimis. Von den Ramschtischen mit den sogenannten Non-Books ganz zu schweigen.

Gewöhnlich wird argumentiert, dass sich das Konsumverhalten eben ändert, das Geschäft sich nur anpasst. Ich sehe die Sache umgekehrt: Veränderte Geschäftsmodelle prägen die Konsumenten.

Im Fall der Buchkultur ist das besonders verheerend. Binnen weniger Jahre hat neoliberaler Raubbau eine Wüste geschaffen, wo vorher das lebendige Erbe einer jahrhundertealten Geisteskultur herrschte. Und dieser Raubbau hat den gesamten Buchhandelskreislauf angesteckt: Einst renommierte Verlagshäuser verhökern Trivialkitsch als Literatur, Kritiker verraten literarische zugunsten kommerzieller Kriterien, das Lesepublikum wird verdorben, Autoren passen sich der Produktion von Ramschware an, um zu überleben und um vielleicht auch einmal das Zufallslos für einen Bestseller zu ziehen – von den Konsequenzen für die Demokratie gar nicht zu reden, der die kulturellen Fundamente weggesprengt werden.

Die Buchhandelsketten tragen eine enorme Verantwortung, nachdem sie die Stelle der vielen kleinen idealistischen Buchhändler eingenommen haben, die früher die Fahnen eines wachen und kritischen Geistes und der Literatur als Kunstform hochgehalten haben. Gleichzeitig sind sie bedroht von einer Dynamik, die sie selbst angestoßen haben: Sie werden aufgefressen vom eigenen Geschäftsmodell. Zum Verkauf von Massenware und Non-Book-Ramsch braucht es keine Buchhändler. Bücher zum Wegschmeißen nach Gebrauch sind ohnehin besser im E-Book aufgehoben, und fürs pure Entertainment reicht das Bewertungsprinzip per „Gefällt mir“-Button der Online-Anbieter.

Beim Kampf um den Erhalt der Arbeitsplätze bei Hugendubel geht es auch um den Erhalt des Berufs des Buchhändlers. Die zentrale Steuerung im Einkauf zum Beispiel zerstört die Eigenverantwortung, erniedrigt die buchhändlerische Arbeit aufs Niveau einer Hilfskraft, die genauso gut Autoreifen oder Semmeln verkaufen könnte. Bei Büchern handelt es sich aber nicht um Semmeln.

Bücher sind nicht nur Unterhaltung, sondern in ihrem Wesenskern Erkenntnismedien. Literatur ist keine verschriftlichte Form von Fernsehentertainment, Sachbücher keine Verlängerung seichter Talk-Shows. Sie sind wichtig, weil sie zu Bildung und kritischer Reflexion beitragen, ohne die jede Demokratie auf Dauer zum Scheitern verurteilt ist. Der Buchhandel ist auch dazu da, Denken und Nachdenken unter die Leute zu bringen.

Wir, die wir uns abmühen, Denken und Kunst in diesem immer noch weiter wachsenden Geistessumpfklima wachzuhalten, wir brauchen Buchhändler, die Buchhändler sind.

Wir Schriftsteller brauchen euch!


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Norbert Niemann
(stellvertretender Vorsitzender Verband deutscher Schriftsteller/VS Bayern)
Rede anlässlich der Demonstration der Hugendubel-Belegschaft vor dem Erzbischöflichen Palais in München am 5. Mai 2012




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