Freitag, 15. Juli 2016

Ein gefährliches Hirngespinst


- oder die wichtigste Nebensache der Welt



Je mehr - so steht zu befürchten - in Politik und Gesellschaft von Werten oder Kultur gesprochen wird, desto weniger gibt es davon. Wenn ganz Deutschland seit Monaten wieder wie wild über >westliche Werte< schwadroniert, bliebe deshalb - selbst wenn alle wüssten, wovon sie reden - dennoch zu klären, ob sie dasselbe meinen. Wer nämlich argwöhnt, wir hätten keine, täuscht sich gewaltig: wir haben so viele, dass schon niemand mehr recht sagen kann, wo in der Werthierarchie oben oder unten ist - und produzieren ständig neue. Kein Wunder, wenn da (angeblich über einen bloßen Verfassungspatriotismus hinaus - was genau genommen heißt: weit darunter!) die Forderung nach ihrer Normierung via >Leitkultur< laut wird!



Wie leicht es bei solchen >Tofu-Wörtern< mit geringem semantischem Eigengeschmack zu dummen und dümmsten Missverständnissen kommen kann, lehrt das Exempel des Mahatma Gandhi, "der auf die Frage, was er von britischer Zivilisation halte, zur Antwort gab: >Ich glaube, das wäre eine sehr gute Idee<." Der Witz liegt hier darin, dass ein normatives Konzept von >Zivilisation< oder >Kultur< - die Wörter werden im englischen Sprachraum meist synonym gebraucht - mit einem anderen kollidiert, das von einer faktisch vorhandenen Lebensform ausgeht. Das aber ist beileibe nicht die einzige Schwierigkeit, die in diesem Begriff steckt.




Er ist ein wahrer Proteus und tritt uns das eine Mal als Steckenpferd und Leidenschaft des kunstbeflissenen Bildungsbürgers entgegen, der sich sein armes Gehirn zermartert, was ihm ein Farbklecks auf einer Leinwand sagen will; das andere Mal als Nosferatu und blutloser Wiedergänger eines christlichen Abendlandes, dessen Geist nun durch leere Köpfe spukt, statt durch volle Kirchen zu wehen; dann im Dirndl mit Knödeln, Schweinernem und Sauerkraut - oder zuguterletzt mit der leicht verblassten und verrutschten Jakobinerhaube bürgerlicher Aufgeklärtheit auf dem Haupt und dem Ruf nach nach superviel Liberté, merklich weniger Egalité und ein klitzekleinbisschen Fraternité auf den Lippen.



Unter dem ganzen Wahnsinnswirrwar zeigt sich uns jedoch halbwegs klar der Antagonismus zwischen zwei halbmythischen Inhalten: einer mehr oder minder partikularistischen Identitätskultur (von der nestwarmen Welt der Lederhose bis hin zum Gottesstaat des Heiligen Augustinus) einerseits und einer mehr oder minder universellen Zivilisiertheit (von Habeascorpus bis zum digitalen Hokuspokus) andererseits. Sie bilden sozusagen das axiologisch aufgeladene Spannungsfeld, innerhalb dessen unser notorisch uniformes und marktkonformes Dasein sich nicht nur abspielt, sondern obendrein auch mit einer gewissen Aura des Exotischen und Exklusiven umgibt.



Da dieser Gegensatz ein bekanntlich enormes Konfliktpotential enthält, wird er durch moderne Verfassungen im Rekurs auf die Naturrechtsidee der Aufklärung zu einen Seite hin aufgehoben. Wenn z.B. die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika jedem Einzelnen "Liberty and the Pursuit of Happiness" oder das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ihm "die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit" zuerkennt, liegt dem jeweils ein Menschenbild zugrunde, mit welchem der Anspruch auf allgemeine Gültigkeit verbunden ist: die Vorstellung des autonomen und verantwortlich handelnden Subjektes. Sie verpflichtet zu einer Humanität und Toleranz, die sonstige Zugehörigkeiten und Wertorientierungen gleichermaßen relativiert und ermöglicht: als öffentlich geschützte Privatangelegenheiten!



Gerade deswegen aber ist der Gedanke einer >Leitkultur< ein gefährliches Hirngespinst - und für jede freiheitliche Gesellschaftsordnung ein Danaergeschenk! Denn zwangsläufig entstünde ein diffuser Werte-Cocktail aus liberalem Universalismus und repressivem Partikularismus: Ingredienzien, die sich schon unverrührt schwer auseinanderhalten lassen - und niemand wäre am Ende noch sicher vor der >Moral< seiner Mitbürger.



Nur simplere Gemüter und gemeine Nürnberger Lebkuchen dürften sich der Illusion hingeben, irgendein >Wir< könnte solche toxischen Mixturen irgendwelchen >Anderen< verschreiben, ohne sich selbst in deren Genuss zu bringen. Das Problem liegt deshalb in der Unmöglichkeit, für eine >Leitkultur< - so ähnlich wie für Menschenrechte und Sittengesetz - generelle Evidenz und absolute Validität zu behaupten. Als Begründung müsste ein >empirischer< Konsens herhalten, der im pluralistischen System aber unerreichbar ist. Ihre Kontingenz und Beliebigkeit würde sie darum angreifbar machen - und dies nicht zuletzt von der Warte jenes Kulturrelativismus und Multikulturalismus aus dem man mit ihr zu entgehen hofft.



Kulturelle Identität mag also (soweit wir eine haben) die wichtigste Nebensache der Welt sein - und womöglich auch die heiligste. Aber mehr - im Namen der menschlichen Vernunft und beim >Deus ignotus< der Verfassungspräambeln, den Vätern des Grundgesetzes und allen Engeln und Märtyrern - bitte besser nicht! Der Schuss dürfte höchstwahrscheinlich böse nach hinten losgehen.










8 Kommentare:

  1. Wieder einmal - alle paar Wochen wieder - schüttet uns jemand seine absinthgetränkten Eingebungen in den Blog, deren Verschwurbelung nur noch durch ihre Bezuglosigkeit überboten wird. Hoffentlich nicht während der Arbeitszeit ersonnen.
    Erkläre jemandend einem armen Nordlicht, warum der gemeine Nürnberger Lebkuchen hier als Feindbild herhalten muß? Besten Dank!

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  2. Da schließe ich mich an. Was für ein ärmliches Gelaber. Ob das wirklich aus der "nestwarmen Welt der Lederhose" heraustönt?

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    1. Aha! Unser Absinthler ist also mal wieder am Werk und hat wieder mal nichts verstanden. Der Bezug ist die Debatte über den Begriff der Leitkultur im Bayerischen Integrationsgesetz - und die bescheidene Tatsache, dass es sehr verschiedene Definitionen des Kulturbegriffes gibt, doch die Verfechter der "Leitkultur" bisher die Erklärung schuldig geblieben sind, was sie unter "Kultur" verstehen. Das ist, wie der Autor mit einer gehörigen Portion Sarkasmus erklärt, vor allem deshalb bedenklich, weil der Begriff der Leitkultur (vgl. Wikipedia) auf eine Identitätskultur hinausläuft, dies aber seinen Benutzern kaum bewußt ist.
      Das mit den Nürnberger Lebkuchen ist in der Tat schwer zu verstehen. Ich vermute, das Verleichsmoment besteht wohl darin, dass sie meist braun sind. Das Ganze ist damit also eine versteckte Anspielung auf die Nürnberger (Rasse-)Gesetze der Nazis, die zwar heftig ist, aber durchaus auf der Argumentationslinie des Verfassers liegt.
      Von einem "ärmlichen Gelaber" kann also gar keine Rede sein. Es geht dem Verfasser ganz offensichtlich darum, in einer verworrenen Kontroverse zu klaren Vorstellungen und damit zu einer klaren Position zu kommen.
      Alles klar, Sie Nordlicht, Sie?

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  3. Ich möchte darauf hinweisen, dass es zum Bayerischen Integrationsgesetz auch kritische Stellungnahmen des DGB gibt. Darin wird vor allem auch der umstrittene und schwammige Begriff der Leitkultur kritisiert. Integration, heisst es dort, kann nicht gelingen, wenn nicht einmal das Integrationsziel definiert ist.
    Der Verfasser des obigen Beitrags hat also nicht geschwurbelt, sondern aus aktuellem Anlass über die Vielzahl möglicher Verständnisse und Missverständnisse in ihren Konsequenzen nachdedacht. Die wirklichen Schwurbler sitzen in diesem Fall in der Landesregierung, und das ärmliche Gelaber ist das von Leuten, die es ihnen gleich tun und mit Wörtern bzw.Unwörtern um sich werfen, die sie nicht mal richtig verstehen.
    Aber es ist ja nichts Neues, dass ein Bayer der die CSU kritisiert, sofort von irgendeinem Nordlicht eins auf die Mütze kriegt. Meinetwegen könnt ihr sie haben, und nehmt den Horst Seehofer gleich mit!

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    1. Wie jetzt, Ihr wollt Eure Führungsschicht nach Norden abschieben? Is nich. Die Linken sind doch imemr so vehement gegen Abschiebungen, also müßt und dürft Ihr Eure Landesregierung schon behalten. Und behandelt sie gut, sonst gibt es einen Putsch im Stile Erdogans uns alt säht Ihr aus!

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    2. Schon merkwürdig, dass der freie Sonntag für die CSU nicht zu europäischen Leitkultur gehört. Das zeigt das ganze Ausmaß der Scheinheiligkeit.

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  4. Bravo! Gut gebrüllt, Bayerischer Löwe!
    Und übrigens: wenn die Nordlichter schon die CSU samt dem Landeshorst haben können, sollten sie die Möchtegern-Sonntagsschänder aus dem Rathaus auch gleich mitnehmen.
    Ein bißchen Opposition belebt ja vielleicht bei denen oben das Geschäft!

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  5. Als langjähriger Hugendubelkunde lese ich ab und zu mal ein Buch. Unter anderem auch "Was ist Kultur?" von Terry Eagleton, das der Autor des Blogartikels oben wohl sehr gut gekannt und auch zitiert hat. Es ist in meinen Augen eine Leistung, die verschiedenen Kulturkonzepte, die dort über Seiten hinweg behandelt werden, in drei kurzen Absätzen und dann auch noch mit soviel Witz zusammen zu fassen und ihren Bezug zur aktuellen Leitkulturdebatte so deutlich und überzeugend aufzuzeigen. Ich glaube, dass der Autor mit seinen Befürchtungen richtig liegt. (Man sieht das nach meiner Überzeugung sehr deutlich in der Türkei, wo Herr Erdogan und seine Anhänger gerade dabei sind, ihren Landsleuten eine Leitkultur zu verpassen, nach der z.B. Traubenessen gesünder als Weintrinken oder Ayran türkischer und Raki untürkisch ist.) Daher wundert mich, dass hier keine sachliche Diskussion stattfindet, sondern irgendein Quatsch über Absinth u.s.w. ausgetauscht wird. Lesen denn Buchhändler sonst nur Schwachsinn?

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