Montag, 1. Dezember 2014

"Im Labor der Konzerne"

Interview mit Orhan Akman

Viele Kolleginnen und Kollegen kennen Orhan Akman als Gewerkschaftssekretär für den Fachbereich Handel im Bezirk München/Rosenheim. Seit Ende Mai arbeitet er in Peru am Aufbau von Gewerkschaftsstrukturen in der dortigen Handelsbranche. Am Rande einer gewerkschaftspolitischen Veranstaltung in Eggstätt (Chiemgau) führten zwei ver.di-Aktive bei Hugendubel ein Gespräch mit Orhan über seine aktuelle Tätigkeit. Die Infoblog-Redaktion dankt den beiden KollegInnen sehr herzlich für die Zusendung ihres Interviews zur Veröffentlichung hier.


Tú tienes derechos: Du hast Rechte!

Lieber Orhan, Du arbeitest jetzt für ein Gewerkschaftsprojekt in Peru - wie kam der Kontakt zustande, was ist Deine Aufgabe dort?
"Der Kontakt kam zustande, weil ich ein Jahr nach Lateinamerika gehen wollte. Ich habe mit unserem Weltdachverband Union Network International (UNI) geredet und meine Hilfe angeboten. Die KollegInnen von UNI boten mir dann ein gewerkschaftliches Aufbau-Projekt im Handel in Peru an, für das ich jetzt seit Mai arbeite."
In Deutschland gibt es Betriebsräte und Mitbestimmung, Gewerkschaften und Tarifautonomie.
Wie ist die Situation in Peru? Wer vertritt dort die Interessen der lohnabhängig Beschäftigten?
"Es gibt dort Betriebsgewerkschaften, also keine Branchengewerkschaften wie bei uns. Diese Sindicatos haben eine ähnliche Funktion wie bei uns Betriebsräte, nur dass sie auch über Löhne und Gehälter verhandeln dürfen. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad im Handel ist sehr schwach, z.B. gibt es 300.000 registrierte Beschäftigte, aber nur 1500 davon sind Gewerkschaftsmitglieder.
Wir versuchen also mit dem Projekt, die Beschäftigten in der Branche zu organisieren."


Orhan Akman bei seinem Vortrag in Eggstätt

Auf einer Konferenz der Informationsstelle Peru im Mai in Köln wurde festgestellt, dass es einerseits eine sehr starke ökonomische Modernisierungs- und Wachstumsdynamik gibt, andererseits wird die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer. Die soziale und gesellschaftliche Entwicklung hält damit nicht Schritt. Das politische System ist korrupt, es gibt eine große Konzentration in den Medien. Was hat das für Auswirkungen auf Deine Gewerkschaftsarbeit?
"Peru gehört zu den ökonomischen Aufsteigern in Lateinamerika. Der Einzelhandel ist eine der dynamischsten Branchen, jeden Tag eröffnet eine Kette einen neuen Laden. Wir haben eine unheimliche Kapitalkonzentration, allein im Handel geben vier, fünf Konzerne den Ton an.
Ein Beispiel: in der Baumarktbranche kontrolliert ein Konzern 85% des Marktanteils. Die Regierung unternimmt nichts, damit es zu einer Balance zwischen den Kapitalinteressen milliardenschwerer Konzerne und den Bedürfnissen der lohnabhängig Beschäftigten kommt.

In den neunziger Jahren unter dem neoliberalen Präsidenten Fujimori wurde die Gewerkschaftsbewegung zerschlagen. Deswegen gab es in den letzten Jahrzehnten kaum Widerstand gegen diese neoliberale Politik. Unser Ziel ist es deshalb, im Handel wieder gewerkschaftliche Strukturen aufzubauen, um hier zu mehr Gerechtigkeit zu kommen, um letztendlich mehr Demokratie zu erreichen. Denn ohne starke Gewerkschaften existiert Demokratie nur auf dem Papier und es herrscht die Diktatur des Kapitals."


Reden wir über die konkrete Lebenssituation der Arbeiterklasse. Wie sieht die aus?

"Es ist zwar formal vieles gesetzlich geregelt, dass z.B. eine maximal 48-Stunden-Woche gibt; in der Realität arbeiten die Menschen aber 10, 12 oder 14 Stunden. Überstunden werden nicht bezahlt. Die Arbeitgeber können 1-Monatsverträge, 3-Monatsverträge oder 6-Monatsverträge abschliessen und damit die Menschen in Abhängigkeit bringen. Es gibt einen gesetzlichen Mindestlohn, der liegt bei umgerechnet 260 US-Dollar, das reicht aber nicht aus. Man braucht in einem Haushalt mindestens zwei bis drei Einkommen, um einigermassen über die Runden zu kommen. Das Leben ist sehr teuer und wer sich die teuren Mieten nicht leisten kann, muss täglich stundenlang in vollen Bussen zur Arbeit fahren. es gibt keine Balance zwischen Arbeit und Leben. Es gibt eine 6-Tage-Woche, am Sonntag, sofern man nicht arbeiten muss, schläft man aus und erledigt den Haushalt. An Sonn- und Feiertagen sind die Läden geöffnet. Und die Kirche schweigt dazu.


No tengas miedo - organizate! Hab´ keine Furcht - Organisiere Dich!


Seit 2011 ist Präsident Humala an der Macht, der mit dem Versprechen eines Mindestlohns und einer sozialeren Politik die Wahlen gewann. Was wurde von den Versprechen umgesetzt?

"Wenn ich mich mit Peruanern über Politik unterhalte, dann merke ich, wie meine Gesprächspartner relativ schnell abschalten, weil die gängige Meinung ist: Politik ist blosse Geschäftemacherei.
Die Regierung arbeitet nur für eine Seite und das sind die Kapitalisten.
Durch Humala haben sich zwar einige Sachen verändert, das Problem ist aber, dass Peru ein sehr reiches Land ist, dass da sehr viel produziert wird, nicht nur an Bodenschätzen - dass aber bei den hart arbeitenden Menschen nichts davon ankommt und sie keine Zukunftsperspektiven für sich sehen.
Was angegangen werden müsste, wären Dinge wie Sozialversicherung, Gesundheitsversorgung, Rentenversicherung, Rechte der Frauen, Bildung etc. Also riesige Baustellen für die Politik des Landes, Probleme die man lösen könnte, denn das Geld wäre da. Aber man investiert nicht in die Infrastruktur d.h. in die Zukunft der Menschen und deswegen steht Humala mittlerweile als Lügner da. Deswegen gab es letztes Jahr im September in Peru einen Generalstreik.




Im Nachbarland Kolumbien werden Gewerkschafter reihenweise ermordet. Du hast vorhin bei Deinem Vortrag die These vertreten, dass Peru und Kolumbien eine Art "Labor der Konzerne" seien, was Anti-Gewerkschaftsstrategien angeht. Welche Rolle spielt der Faktor Gewalt in Peru?

"Auch in Peru sind in der Vergangenheit Gewerkschafter ermordet worden. Aktuell erleben wir Gewalt nicht in Form von Mord, aber Gewalt gegen Gewerkschafter existiert schon, z.B. durch Schlägerbanden des Arbeitgebers. Unser Gewerkschaftsteam im Handel wurde seit Juni dreimal brutal überfallen. Wir erleben schon, dass sobald wir erfolgreiche Gewerkschaftsaktionen starten, die Arbeitgeber uns nicht nur drohen, sondern durch ihre Schläger mit körperlicher Gewalt gegen uns vorgehen. Wir wehren uns dagegen, indem wir die Beschäftigten z.B. über Seminare darüber aufklären, welche Rechte sie haben und an welche Gesetze sich der Arbeitgeber halten muss.

Die Kapitalseite reagiert darauf, indem sie Veranstaltungen zum selben Zeitpunkt wie unsere Seminare ansetzt. Das ist die sanfte Tour ihrer Anti-Gewerkschaftsstrategie. Viel schlimmer ist, dass wir jedes einzelne Mitglied dem Unternehmen mitteilen müssen, der Gewerkschaftsbeitrag wird nämlich vom Gehalt abgezogen, dann vom Arbeitgeber überwiesen. D.h. bereits nach einem Tag Gewerkschaftszugehörigkeit fangen die Arbeitgeber an, unsere Neu-Mitglieder zu "bearbeiten", damit sie wieder austreten, entweder mit Druck oder indem sie mit einem Bündel Geldscheinen winken. Erst neulich hatte ich den Fall, wo für einen Austritt fast ein ganzer Monatslohn geboten wurde. Hier wäre der Gesetzgeber dringend gefordert.

Mit "Labor der Konzerne" meine ich, dass von den Kapitalisten immer neue Methoden zur Gewerkschaftsbekämpfung ausgeklügelt werden, also ein systematisches und gesteuertes Vorgehen gegen Gewerkschaftsfunktionäre und aktive Gewerkschaftsmitglieder, die die Interessen der lohnabhängig Beschäftigten vertreten wollen. Der Handelskonzern RIPLEY musste in drei nachgewiesenen Fällen von Anti-Gewerkschaftspraktiken eine Strafe von umgerechnet 442.000 US-Dollar zahlen.


"Wir sind die Gewerkschaft - Wir sind der Handel!"

Werfen wir einen Blick auf die politische Gesamtsituation in Lateinamerika. In Venezuela und Bolivien gibt es sozialistische Regierungen, in vielen anderen südamerikanischen Ländern gibt es Mitte-Links-Regierungen. Siehst Du für Peru Perspektiven für eine emanzipatorische Politik, die über die Gewerkschaftsbewegung hinausweist?

"Es zunächst erst mal sehr positiv, dass wir nach all den Militärputschen auf dem Kontinent mittlerweile viele demokratisch gewählte Regierungen haben, die diese Geschichte politisch-historisch aufarbeiten, also dass die Frage nach den "Verschwundenen", Gefolterten oder Ermordeten gestellt wird. Und dass diese Regierungen versuchen, eine - sagen wir mal - humanistische Politik zu machen, dass man Menschen nicht auseinanderdividiert, sondern sie zusammenführt, dass man der indigenen Bevölkerung ihre Rechte gibt, ihre Sprache und Kultur respektiert.

Ich sehe die Entwicklung daher grundsätzlich positiv. Das muss auch nicht unbedingt gleich "sozialistisch" sein, sondern im Gegensatz zu früher erst mal "anders". Darauf kann man dann aufbauen und eine emanzipatorische Politik für die Menschen entwickeln."

Gilt das auch für Peru?

"Für Peru sehe ich das unmittelbar noch nicht, aber ich hoffe, dass der Funke von den anderen Ländern Lateinamerikas auch nach Peru überspringt. Peru lag ja immer auf der kapitalistischen Achse der Chicago-Boys (neoliberale US-Ökonomen, die z.B. Chiles Diktator Pinochet beraten haben, Anm. d. Red.), d.h. USA - Mexiko - Kolumbien - Peru - Chile. Meine Hoffnung ist, dass der Funke überspringt, aber letztendlich muss das peruanische Volk diesen Prozess selbst starten.
Was ganz Lateinamerika angeht, so sind wir jetzt eher in der Situation, dass wir in Europa, speziell in der europäischen Linken, von Lateinamerika sehr viel lernen können. Vielleicht mehr als umgekehrt."

Das ist ein gutes Stichwort für unsere letzte Frage an Dich: Was können wir hier in Deutschland, hier bei ver.di, von der Gewerkschaftsarbeit in Peru bzw. in Lateinamerika lernen?
"Zunächst geht es darum, dass wir schätzen lernen, was wir haben. Aber das fiel ja auch nicht vom Himmel, sondern wurde von der Arbeiterbewegung in 150 Jahren erkämpft. Manchmal vergisst man das und nimmt es als selbstverständlich hin. Aus dieser historischen Tradition heraus tragen wir eine große Verantwortung für die Gewerkschaftsbewegung in anderen Ländern, auf anderen Kontinenten.
Wenn man den Kolleginnen und Kollegen in Peru erzählt, dass man als hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär in einer Organisation mit zwei Millionen Mitgliedern arbeitet, dann ist das für sie kaum zu fassen. Aber auch die Sindicatos haben Organisationsstrukturen mit ehrenamtlichen Aktivistinnen und Mitgliedern in Führungsfunktionen.

Was wir von ihnen lernen können? Zunächst mal Bescheidenheit, wenn man z.B. um Mitternacht für ein Seminar Brote schmiert, weil sie solange arbeiten müssen, und dann in ihrer Freizeit bis drei Uhr morgens ehrenamtliche Organisationsarbeit machen. Wir können von ihnen lernen, nicht abzuheben, sondern auf dem Boden zu bleiben! 
Diese Gefahr ist in großen, teilweise bürokratischen Gewerkschaftsapparaten wie der ver.di natürlich grösser als in diesen kleinen Organisationen in Peru, die viel stärker vom ehrenamtlichen Engagement getragen werden. Und wir können viel vom Enthusiasmus der peruanischen Kolleginnen und Kollegen  lernen, von ihrem Humanismus, ihrer Hingabe, ihrer Freundlichkeit, ihrer Offenheit..

Wie wir hier in Deutschland unsere Gewerkschaftsarbeit zukünftig organisieren und umgestalten, das hat natürlich etwas zu tun mit der Branchenentwicklung und den Ressourcen. Aber man kann und sollte den ehrenamtlichen Aktiven mehr zutrauen, ihnen mehr Räume öffnen. Ein Mitglied, das nur Beiträge zahlt, ein Mitglied, das eine Gewerkschaft nur als Versicherung wahrnimmt, das kann nicht die Zukunft unserer Organisation sein. Der Apparat muss die Ehrenamtlichen so schulen, dass sie verstärkt Sachen auch selber machen können. Lasst sie ruhig auch mal was falsch machen!
Lieber sollen sie einmal was falsch machen, als gar nichts zu machen!
Die Devise muss sein: Ja, ich bin Mitglied! Ja, ich bin die Gewerkschaft! Hier im Betrieb und anderswo. Gewerkschaft muss für die Mitglieder erlebbar und erfahrbar sein
In Peru trauen sich die Kolleginnen mehr zu, müssen sich mehr zu trauen, weil sie nicht auf den Hauptamtlichen warten können - weil es den einfach gar nicht gibt - und trotzdem läuft´s.
Aber wie ich schon vorhin sagte: man sollte den Apparat auch nicht geringschätzen, weil einem Handlungsmöglichkeiten offenstehen, die man sonst in Kleinstorganisationen niemals hätte.
Entscheidend ist, was man daraus macht! Also: Vorwärts gehen und beim Machen lernen!
Der Weg entsteht beim Gehen."

Lieber Orhan, wir danken Dir sehr herzlich für das Gespräch und wünschen Dir für Deine weitere Gewerkschaftsarbeit in Peru alles Gute!







Anmerkung der Infoblog-Redaktion:

Orhan Akman und sein Gewerkschaftsteam benötigen für ihre Gewerkschaftsarbeit dringend einen Farbkopierer. Wenn Du Orhan unterstützen und etwas spenden möchtest, wende Dich bitte an Schorsch Wäsler (georg.waesler@verdi.de) oder einen anderen Kollegen/in von ver.di.



2 Kommentare:

  1. Vielen Dank für das tolle und superinteressante Interview! Viel Erfolg an Orhan!!

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  2. Super Orhan
    Hut ab wir brauchen mehr von deiner Sorte

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