- oder von den Exzessen der Normalität
Ironie – haben wir in der Schule gelernt
– besteht entweder darin, dass man das Gegenteil dessen sagt, was man meint,
oder aber das Gegenteil dessen meint, was man sagt. Wer hin und wieder einen
Blick in die Tagespresse riskiert, wird dort auf eine dritte Variante stoßen,
die sich bei zeitgenössischen Journalisten anscheinend größter Beliebtheit
erfreut: sag, was du meinst oder vielleicht auch nicht, aber so, dass niemand
es merkt. Eine Art von Meta-Ironie oder Ironie der Ironie!
Als jüngstes Meisterstück dieser Kunst
darf ohne Zweifel ein Kommentar zu Juso-Chef Kühnert und Fridays For Future
(Bernd Ulrich, Roter Popanz, in: DIE ZEIT 9. Mai 2019, S. 1) gelten,
dessen Autor offenbar ein bisschen über Politik schreiben wollte, soweit das
halt möglich war, ohne allzu politisch zu werden. Was bei der ersten Lektüre –
und eine zweite dürfte selten stattfinden – nach Kritik an Regierung und
Parteien aussieht, dient hier ebenso sehr der Ausgrenzung ihrer Gegner. Das
zeigt sich thematisch bereits darin, dass Klimaschützer mit einem, der von
„Sozialismus“ spricht, im selben Topf landen, d.h. nach herrschender Ideologie
kontaminiert sind.
Was wir vom Juso-Chef und von
Schülerstreiks zu halten haben, wird uns eingangs gleich deutlich gemacht. Weil
dies ja kolossal zur objektiven Darstellung beiträgt, darf der Hinweis auf
Kevin Kühnerts Alter – „ein 29-järiger“ nicht fehlen. Und dass die Teilnehmer
an den Freitagsaktionen „Schule schwänzende Jugendliche“ sind versteht sich. So
wären die ersten Frames gesetzt. Sie helfen das Staunen nachzuvollziehen, dass
nun ausgerechnet wegen dieser entspannungsorientierten Kids „eine Debatte über
Klimapolitik“ nicht „routiniert wegdiskutiert und beiseiteverwaltet [!] werden“
kann – was gewiss wahrhaftig und aufrichtig ironisch gemeint ist.
Leider war es das auch schon mit der
Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit. Denn jetzt folgt der rhetorische
Vernichtungsschlag – aber nicht gegen irgendwelche Wegdiskutierer oder
Beiseiteverwalter, sondern gegen Kühnert und die Schüler. Wie macht unser Autor
das? Er wirft einfach die Frage auf: „Woher kommt dieses neue Bedürfnis nach
Radikalität?“ Und während das Publikum jetzt vollauf beschäftigt ist, sich
höchst interessiert der nichtssagenden Allerweltsantwort entgegen zu lesen,
bleibt ihm gänzlich verborgen, dass es die Botschaft bereits geschluckt hat:
hier seien Leute ohne Augenmaß am Werk, die außerhalb des seriösen öffentlichen
Diskurses stünden.
Damit wäre das Spektrum akzeptabler
Meinungen im Sinn des etablierten Demokratiemanagements bedarfsgerecht
zurechtgestutzt. Der lästige Juso und die nervigen Ökos, implizit als infantil,
explizit als radikal gebrandmarkt, sind natürlich heraus und hinten
runtergefallen – fast möchte man sagen: “wegdiskutiert und beiseiteverwaltet“
worden. Kein Wunder, dass deshalb laut dem PR-Todesengel, der sie gerade medial
abserviert hat, das Erscheinen solcher Menschen auf der politischen Bildfläche
keinesfalls im Zusammenhang mit ihren Ideen oder Zielen zu sehen ist. Denn
sonst müssten wir sie ja ernst nehmen – und sei es nur um der Sache willen.
Aber so wie einst die deutsche
Philosophie hat heute anscheinend der deutsche Journalismus das
Fundamentalontologische für sich entdeckt. Ergo ist die einzig gute Frage zu
Juso-Chef Kühnert und Fridays For Future natürlich die Seinsfrage: warum gibt
es sie und nicht vielmehr nicht? Und klar steht dabei von vorneherein fest,
dass inhaltliche Auseinandersetzungen der Lösung des Rätsels bloß hinderlich
wären: „Die Antwort darauf findet sich weder in einer Feinanalyse der
Kühnert-Äußerungen noch bei mitfühlenden Besuchen auf den Schülerdemos, sondern
nur bei der Besichtigung des Vakuums, in das der eine wie die anderen offenbar
hineingestoßen sind.“
Dieses Sätzchen ist in doppelter
Hinsicht aufschlussreich: es transportiert erstens jene alte Weisheit, die wir
als Kinder zu befolgen hatten: gefälligst Klappe halten, wenn große Leute über
wichtige Dinge reden! Und zweitens wieder so eine abschätzige Metapher! Was man
mit Wohlwollen (mal demokratisch gedacht) auch als politische Partizipation der
Basis feiern könnte, wird hier quasi zum invasorischen Stoßtruppunternehmen,
dessen Akteure mit ihren „Ideen von außen“ die Themen okkupieren. Das aber ist
nach Ansicht des Verfassers nur möglich, weil Union und SPD ihren Job als
Dienstleister und Problemlöser vergeigt haben: dürfte also nicht möglich sein.
Bei der anschließenden Sightseeingtour
durch den gesellschaftlichen und ökologischen Katastrophenraum – von der
Protektion der Autoindustrie über „die Sache mit dem Wohnen“ bis hin zur „Sache
mit dem Klima“ und „dem Artensterben“ – wird folglich an jeder Station betont,
dass hier administrative Leerstellen klaffen. Der Juso und die Ökos hätten die
Probleme also richtig erkannt: nur dass halt leider „Kollektivierung ... als
falsche Antwort empfunden“ werde, „Enteignung“ vielleicht auch nicht „das
probate Mittel“ sei und beim Klima- und Artenschutz „hier und da die falschen
Konsequenzen gezogen“ würden - welche gemeint sind, bleibt Geheimnis.
Um so schlimmer findet der Autor, dass
unsere abgestraften und beleidigten GroKo-Leberwürste, die doch vernünftiger
und moderater sein müssten, deswegen Rot sehen und uncool werden, statt endlich
– mit Augenmaß – den Horror Vacui der Elitedemokratie zu bedienen: „Das
Maßvolle wird missionarisch. Die Mitte tobt.“ So weit nämlich reicht die Kritik
am Parteienkartell nicht, dass es für ihn je etwas anderes sein könnte als das
„Maßvolle“ oder die „Mitte“ – und daher sein Rat an Union und SPD, hübsch
mittig und mäßig zu bleiben: sie „sollten sich nicht so viel mit extremen
Äußerungen beschäftigen, sondern lieber mit den Exzessen der Normalität.“
Damit wäre die Katze aus dem Sack – und
wir fassen zusammen: dass unser Land und diese Welt vermutlich kurz vor dem
Kollaps stehen, ist zwar eine Ausschreitung, aber normal – also irgendwie noch
im grünen Bereich. Der Protest dagegen kommt hingegen von Radikalen und ist extrem.
Um uns diese vom Hals zu schaffen, muss die Regierung das Vakuum füllen, in dem
sie sich tummeln – aber bitte sozialismusfrei, minimalinvasiv und
systemaffirmativ! Kurzum: alles, was an indoktrinärer Quacksalberei in letzter
Zeit verbrochen wurde, wird hier derart getoppt, dass man nur hoffen kann, es
sei nicht so gemeint – wohl vergeblich!
Du liebe Güte, muss man denn unbedingt jedes Wort auf die Goldwaage legen! Der Autor hat doch gesagt, dass die Regierung was tun sollte. Warum ist so wichtig, wie er es gesagt hat?
AntwortenLöschenJa, das muß zwingend gemacht werden, wenn jemand eine Phrasendreschmaschine zu Weihnachten bekommen hat und nichts Besseres zu tun hat, als Kommentare aus der "Zeit" auseinanderzunehmen.
LöschenEin Kommentar ist Kommentar und gibt Meinungen wieder (wie der hier auch) und wenn Herr Ulrich diesen Juso-Chef nicht mag, ist er damit in guter Gesellschaft.
Bleibt also mal wieder die Frage, was will der Autor (m w d) uns mit seinem Standpunkt sagen? Ein sozialismusfreies Leben ist doch eine gute Sache und wie viele Menschen da draußen an ihren Schmartphones und Daddelmaschinen können mit dem Wort systemaffirmativ wohl etwas anfangen? Oder wie viele unserer Azubis?
Das Kritische an diesem ZEIT-Kommentar ist, denke ich, dass er dem Leser eher eine Denkweise unterjubelt, statt eine Meinung auszusprechen. Wenn der Verfasser keine Schülerdemos und keinen Sozialismus mag, könnte er das ja auch ganz einfach hinschreiben - inklusive aller guten Gründe, die er dafür haben mag. Warum tut er es nicht? Dass ein Ausdruck wie "Exzesse der Normalität" versus "extrem" ein Unding ist, liegt doch wohl auf der Hand. Das könnte übrigens eher aus der Phrasendreschmaschine stammen als die Kritik daran. Wer sich sowas ausdenkt, will nicht argumentieren, sondern manipulieren.
LöschenWer die Sprache beherrscht, beherrscht auch das Denken. Am besten hat man das doch auf Betriebsversammlungen gesehen. Solange sich der Betriebsrat und die Belegschaft auf die Ausdrücke und die Ausfrucksweise der Chefs (z.B."die einzige Stellschraube, an der man drehen kann" oder "mehr Zeit für den Kunden") einlassen und sie übernehmen, weil sie keine eigenen Worte finden, werden sie sich immer schwer tun, ihren Standpunkt plausibel zu vertreten. Erst wenn sie aus dem vorgegebenen Sprachspiel aussteigen, kommt die Debatte auf den Punkt. Deshalb haben die "kleinen Leute" immer schon ein gesundes Misstrauen in die Phrasen von "denen da oben" gehabt.
LöschenNaja! Wenn unsere Azubis nicht wissen, wo man da nachlägt, ist das vielleicht ein Problem, an für das der Verfasser des Blog-Beitrags nicht unbedingt verantwortlich ist. Allerdings ist mir nicht ganz klar, was das mit obigem Beitrag zu tun haben soll. Ich finde, hier wird sehr gut gezeigt, wie unterschwellig manipuliert wird. Das ist sicherlich auch der Grund, warum so viele das Gefühl haben, sie würden von den Medien belogen. Das Problem ist übrigens, je gebildeter die Leute sind, desto mehr fallen sie drauf rein, weil es ja angeblich um die Sache und nicht um Worte geht. Wer sich bei Hugendubel ausbilden lässt, ist also nicht sehr gefährdet, auch wenn sie/er vielleicht nicht weiß, was mit "systemaffirmativ" gemeint ist.
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