Interview mit Hans-Peter Unger
Immer mehr Fehltage werden durch psychische Erkrankungen verursacht. Wie erklären Sie diesen Trend?
Man muss zwischen der rasanten Entwicklung der AU-Zahlen und der
tatsächlichen Prävalenz psychischer Krankheiten unterscheiden: Es gibt
heute nicht mehr psychisch kranke Menschen als vor zehn oder zwanzig
Jahren, sie werden aber besser diagnostiziert und weniger stigmatisiert.
Fakt ist, dass der Handlungs- und Behandlungsbedarf weiter steigt.
Epidemiologische Studien zeigen, dass rund 40 Prozent der Menschen in
Deutschland mindestens einmal im Leben an einer behandlungsbedürftigen
psychischen Krise erkranken. Viele Fälle bleiben also auch heute noch
unerkannt.
Warum werden psychische Erkrankungen in Ballungszentren häufiger diagnostiziert als im ländlichen Raum?
Der Stresspegel ist in Großstädten höher. Untersuchungen belegen, dass
Menschen, die auf dem Land aufwachsen, weniger auf Stress anspringen als
Städter. Außerdem ist in der städtischen Community das
Gesundheitsbewusstsein größer. Psychische Probleme werden deshalb
schneller als solche benannt und diagnostiziert. Nicht zuletzt
korreliert die Inanspruchnahme von Behandlungen auch mit der Dichte des
Angebots – und die ist in Städten naturgemäß höher als in ländlichen
Gegenden.
Sind psychische Erkrankungen heute salonfähiger als vor zehn Jahren?
Es gibt in jedem Fall einen Shift zu Psychothemen und eine Abnahme der Stigmatisierung. Heute spielen körperliche Belastungen in der Arbeitswelt nicht mehr eine so große Rolle wie beispielsweise in der Produktionsgesellschaft der 70er-Jahre. Wir haben kaum noch Probleme mit Hygienemängeln, die Arbeitsplatzbedingungen sind deutlich besser geworden. Krankheit steht immer auch im gesellschaftlichen Kontext.
Früher wurde beispielsweise die Krankheit Neurasthenie mit der
Industrialisierung und der Verdichtung des Verkehrswesens begründet,
heute sind es Digitalisierung und globale Vernetzung, die wir mit
unseren psychischen Beschwerden in Verbindung setzen. Für viele gehört
der Satz „ich bin gestresst“ mittlerweile zum guten Ton, insofern kann
man schon sagen, dass psychische Leiden ziemlich en vogue sind.
Das zeigt auch der vor einigen Jahren inflationär benutzte Begriff des Burnouts …
Die Burnout-Diskussion ist auch eine Folge der veränderten
psychiatrischen Diagnostik. Zu Zeiten als die Diagnoseklassifikation
noch nach dem Systems ICD 9 lief, wurde das jeweilige Modell des
Krankheitsentstehens in die Diagnose mit einbezogen. Eine Depression
konnte beispielsweise eine Reaktion auf ein belastendes Ereignis sein,
eine biologische Ursache haben oder Ausdruck eines biografischen
Konflikts sein.
Heute haben wir mit dem ICD 10 eine beschreibende Diagnostik ohne
Berücksichtigung der Ursache. Deshalb wird beispielsweise im
öffentlichen Diskurs ein „leerer“ Depressionsbegriff an ein
gesellschaftlich wahrgenommenes Unbehagen geknüpft und so gefüllt:
„Arbeit macht krank“scheint eine logische Schlussfolgerung zu sein – das
erklärt auch die rege Burnout-Diskussion in den letzten Jahren.
Sie setzen sich aktiv für betriebliche Prävention ein. Wie kann man sich vor psychischen Krankheiten schützen?
Wichtig ist, dass körperliche und seelische Warnzeichen rechtzeitig
erkannt werden und das innere Gleichgewicht zwischen Beanspruchung und
Regeneration bewahrt bleibt. Es ist zunächst Sache des Einzelnen,
hierauf zu achten. Doch auch die Unternehmen tragen Verantwortung für
die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Workshops mit
Führungskräften sind deshalb wichtig, um an den entscheidenden Stellen
zu sensibilisieren.
Im besten Fall steuert der Chef aktiv gegen, bevor der Mitarbeiter
ernsthaft krank wird. Vor allem, wenn Change-Prozesse anstehen, rücken
die Emotionen in den Vordergrund. Die für das Anpacken der Veränderung
notwendige Motivation kann schnell in negativen Gefühlen von Angst, Wut
und Resignation steckenbleiben. Daran scheitern entscheidende
Veränderungsprozesse in Unternehmen."
Hans-Peter Unger ist
Psychiater und Psychotherapeut, Chefarzt der Abteilung Psychiatrie und
Psychotherapie in der Asklepios-Klinik Hamburg-Harburg.
Quelle. www.dak.de
Quelle. www.dak.de
"Im besten Fall steuert der Chef aktiv gegen, bevor der Mitarbeiter ernsthaft krank wird." Da kann ich bei Hugendubel nur lachen. das Gegenteil ist der Fall. Die vom Management durchgedrückten methoden machen krank.
AntwortenLöschenSehr interessantes Interview. Da die GL diesen Blog intensiv liest, wäre hier doch mal ein Ansatz zum Nachdenken gegeben. Aber das dürfte hoffnungslos sein.
AntwortenLöschenStimme Dir zu. Leider.
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