"Allgemeinverbindlichkeit" und die Geschichte der Gewerkschaften
Gerd Arntz, Fabrikbesetzung in Frankreich, (1936) Holzschnitt
Die Aktion der
KollegInnen des Münchner Einzelhandels (Übergabe einer Resolution zur Allgemeinverbindlichkeit im Bayerischen Landtag, Anm. d. Red.) war insofern richtig, weil sie
spektakulär auf einen Missstand hinweist, der für einen Sozialstaat
unerträglich ist: Die Massenflucht einiger Kapitalfraktionen (je nach
Branche unterschiedlich) aus den Tarifverträgen. Wer Lust hat,
weiterzulesen, hier ein kurzer geschichtlicher Exkurs und eine
Schlussfolgerung, die möglicherweise nicht allen gefällt:
Gerd Arntz, Fabrik (1927)
Ob Zigarrenmacher oder Buchdrucker: Das Wesen der Gewerkschaften bestand von Anfang an in der Streikfähigkeit derer, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um die Existenz zu sichern bzw. arbeiten zu können. Nach dem Fall des "Sozialistengesetzes" von Bismarck (1878 bis 1890), eine der drei gewaltsamen Unterdrückung/Vernichtungsperioden: 1818/1848 - 1878/1890 - 1933/1945 (Metternich, Bismarck, Hitler) kam es zu breiten Gründungen von Gewerkschaften, etwa dem Vorläufer der IG Metall (1890). Die "sozialistischen" Gewerkschaften (die große Mehrheit) definierten sich nicht als "Partner", sondern als Zusammenschluss derer, die durch ihre Streikfähigkeit sowohl der Ausbeutung (Arbeitsbedingungen wie Lohn/Gehalt, Arbeitszeit...) als auch den politischen Verhältnissen entgegen treten konnten, die man grundsätzlich humanisieren wollte.
Gerd Arntz, Arbeitslose (1931), Holzschnitt
Der "Burgfrieden" des 1.Weltkrieges, verbunden mit einem faktischen Streikverbot - unterlaufen durch "wilde" Streiks in der Rüstungsproduktion gegen Ende des Krieges und der Herausbildung von Arbeiter- und Soldatenräten - ging an die Substanz der Gewerkschaften, die entgegen ihrer Friedens-Programmatik im Nationalrausch gegen den Feind "den Franzosen, den..." in den Krieg zogen. (Dazu die recht aktuelle Kritik von Kurt Tucholsky: Ich bin stolz...).
Nachdem sich nach der Revolution von 1918 die "gemäßigte" Sozialdemokratie durch Gründung der Weimarar Republik durchsetzte, kam man unter dem Eindruck der Revolution den Forderungen der Gewerkschaften entgegen: Koalitionsfreiheit, faktische Anerkennung von Tarifverträgen, 8-Stunden-Tag...
Gerd Arntz, Krise (1931), Holzschnitt
1920 schlug die Stunde aller demokratisch orientierten
Gewerkschaften: In einem Generalstreik trat man dem Kapp-Putsch
entgegen und rettete die Republik trotz aller Unzulänglichkeiten. Das
heißt, die Weimarer Republik verdankt ihr bescheidenes Überleben einem
mächtigen politischen Streik. 10 Millionen Menschen waren in den
"freien" Gewerkschaften (Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund, ADGB)
organisiert.
1933 waren es - Folge der Krise/Verelendung und der
schwankenden Politik in den Gewerkschaften - gerade noch die Hälfte.
"Wir hätten damals den Nazis mit der Waffe in der Hand entgegen treten
müssen" (Erwin Essel, bayrischer IG Metall-Bezirksleiter, in einem
Gespräch nach seiner Pensionierung.) Seit 1928 hatten Tarifverträge
faktisch keine Wirkung mehr - das Heer der Arbeitslosen wurde zur
Erhöhung der Arbeitszeiten und zur Absenkung der Löhne genutzt. Die
eigentliche "Waffe", nämlich die Streikfähigkeit, war stumpf geworden
und fortschrittliche Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialisten, Christen
fanden sich schon 1933 "in Dachau" (aus dem Leben meiner Mutter) wieder.
Noch am 1. Mai 1933 versuchten einige Gewerkschaftsspitzen zu retten,
was sie glaubten retten zu können. Dahinter stand die
sozialdemokratische Fehleinschätzung eines "kurzen Spuks" der
Hitlerianer. 1944 schrieb der bayrische Gewerkschafter Wilhelm Leuschner
sein Testament vor der Hinrichtung im KZ am 29. September 1944: "Morgen
werde ich gehenkt. Schafft die Einheit". Seine Schlussfolgerung aus der
Niederlage von 1933: Gespaltene Gewerkschaften (Sozialistische,
christliche, Angestelltengewerkschaften...) schwächen die
Schlagkraft/Streikfähigkeit der Gewerkschaften.
Eine andere, wichtige
Erkenntnis: "Du sollst dich nie vor einem lebenden Menschen bücken"
(IG-Metall Bezirksleiter Baden-Württemberg Willi Bleicher). Für ihn war
der Streik übrigens keine Spaßveranstaltung, sondern "die schärfste
Waffe", die auch das Gegenteil bewirken kann, wenn sie nicht konsequent
eingesetzt wird. Das Beispiel war 1952 die IG Druck und Papier
(Zeitungsstreik): Der DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) rief 1951/52 zu
Maßnahmen gegen den Adenauer-Entwurf des Betriebsverfassungsgesetzes
auf, das die Betriebsräte zu Bittstellern degradierte und die
Mitbestimmungsregelungen nach 1945 unterlaufen sollte. Der
"Zeitungsstreik" wurde nicht durch einen Generalstreik unterstützt. So
konnte durch enorme Schadensersatzfolgen und das faktische Verbot des
politischen Streiks (Bundesarbeitsgericht) die IG Druck und Papier
"diszipliniert" werden.
In Verbindung mit dem Tarifvertragsgesetz wurden
die Gewerkschaften auf Streikziele reduziert, die sich auf die
Arbeitsbedingungen (Tarifverträge) beziehen - ein europäischer
Sonderweg, der internationalen Regelungen widerspricht. Gleiches gilt
für das Streikverbot für Beamte.
Mit der Gründung der DDR und dem Beginn des kalten Krieges entstand eine neue "Front" gegen führende Gewerkschafter, die eine "Wiederherstellung der alten Besitz- und Machtverhältnisse" nicht hinnehmen wollten. So war der Leiter des wirtschaftspolitischen Instituts des DGB mit seiner Forderung nach "aktiver Lohnpolitik" (Umverteilung) durch einen Spionagevorwurf (DDR) ausgeschaltet worden.
A apropos DDR: Eine fatale
Fehleinschätzung der Staatsführung bestand im Aktions/Streikverbot des
Freien Deutschen Gewerkschaft Bundes (FDGB). Mit dem Argument, das Volk
könne nicht gegen sich selbst (volkseigene Betriebe) streiken, wurde der
FDGB vom Volk weitgehend als Freizeitorganisation (Ferien) und
Anhängsel der Betriebsgewerkschaftsleitung wahrgenommen. Wir kennen die
unrühmliche Folge und das Ende dieser Geschichte. Entscheidend aber war
eine weitere Folge des Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik ohne
neue Verfassung des gesamtdeutschen Staates: Es entstand ein "weites
Feld" unternehmerischer Willkür ohne Tarifverträge oder mit schlechteren
Bedingungen (Arbeitszeit, Lohn...). Der massenweise Übergabe von
Mitgliedsbüchern des FDGB an die DGB-Gewerkschaften folgte schnell die
Ernüchterung des real existierenden Volkes: Angesichts der allgemeinen
Verhältnisse trat man nicht nur schnell ein, sondern auch wieder aus.
Auch der Streik der Ost-IG Metall zur Angleichung der Arbeitszeit (35
Stunden Woche) war kein besonders rühmliches Kapitel gesamtdeutscher
Gewerkschaftspolitik, zumal eine Massenflucht in die Bundesrepublik,
nach Österreich, Skandinavien usw. einsetzte. Das "Ostmodell" (die
Kapitalseite verweigert Tarifverträge) bekam einen gesamtdeutschen
Trend. Am "nachhaltigsten" bei den Menschen, die im
"Dienstleistungsbereich" beschäftigt sind. Die neoliberale
Ausgliederungspolitik der Unternehmen ("Kerngeschäft") und das Prinzip
"atmender Belegschaften" (Hartz, VW), Kern- und Randbelegschaften,
Verlagerungen, Zulieferer aus dem In- und Ausland tat ein übriges:
Gerd Arntz, Strike (1936), Holzschnitt
Tarifverträge blieben nur dort weitgehend unbeschädigt, wo man Widerstand zu befürchten hatte oder wo man im Dreieck Gewerkschaft - Kapitalvertreter - Politik einen nie formulierten Kompromiss befolgte: Wir (Politik/Merkel) tasten in der Krise die Kurzarbeiterregelung nicht an, wir (Kapitalvertreter) rütteln in den Kernbereichen der Exportindustrie nicht an den Tarifverträgen und wir (Gewerkschaften) schützen auf diese Weise die hoch organisierten Kernbelegschaften, weichen aber regelmäßig von geltenden Tarifverträgen ab, wenn es "betriebswirtschaftlich unumgänglich" ist. Das Ganze unter dem Druck mächtiger Betriebsräte und Mitglieder in den Aufsichtsräten.
Das
Ergebnis dieser Gesamtlage: Eine immer stärkere Spaltung der
Belegschaften, immer mehr Reichtum - branchenübergreifend - in den
Händen einer besitzenden Minderheit, immer mehr relative und effektive
Verarmung bei denen, die nicht zu den "Kernen" zählen: Zeitbegrenzte
Arbeitsverträge, Arbeitssuchende, Hartz IV...
Diese Entwicklung wurde durch die "Globalisierung" mit neo- und ordo-liberalem Vorzeichen befördert. Weitgehend widerstandslos "reformierte" die (sozialdemokratisch/grün geführte) Politik, den neoliberalen "Experten" hörig, den "Arbeitsmarkt" (Agenda 2010...) Deren Mitdenker ist jetzt belohnt worden und darf Bundespräsident sein.
Trotz alledem: Es gibt auch andere Signale. In einer beispielhaften Bewegung erzielte Ver.di einen Tarifvertrag bei ZARA (Aktions/Streikführer Orhan Akman). Mit anderen Worten: Es geht auch anders. Und: Es ist durchaus sinnvoll, aktiv in einer der DGB-Gewerkschaften auf deren Politik einzuwirken.
Nächster Streitpunkt: Das
"Trittbrettfahrer-Argument" darf nicht zur Ausgrenzung oder
Sonderregelungen für Mitglieder führen, weil das "Nichtmitglied" morgen
zur Einsicht kommen kann, dass es gemeinsam besser geht
(Streikerfahrung, erfolgreiche Betriebsratsarbeit). Tarifverträge müssen
alle schützen, die ihre Arbeitskraft, ihr Wissen, ihre Fähigkeiten im
Arbeitsprozess einsetzen - von der Putzkolonne bis zum
Abteilung/Bezirks- oder sonstigen Leiter (ausser "leitenden
Angestellten" die als Vollzugsbeamte der Kapitalseite agieren und
entsprechend belohnt werden).
Gerd Arntz, Utopia? (1969), Holzschnitt
Weiter: Eine wirksame, aktionsorientierte
Gewerkschaftsarbeit braucht keine Rechenschieber, sondern aktive Leute
in den Betrieben. Eine gut organisiert ("bewusste, aufgeklärte")
Minderheit ist eine potenzielle Mehrheit. Gewerkschaften dürfen sich
nicht selbst zu Dienstleistern degradieren. Sie haben ein politisches
Mandat im vornehmsten Sinne des Wortes. Noch immer und immer mehr geht
es um eine grundsätzliche Aufhebung der Herrschaft von Menschen über
Menschen. Das Ganze - wie schon im 19. Jhd. auf die Fahnen geschrieben -
im internationalen Massstab mit etwas erleichterten
Kommunikationsmittel.
Schließlich: Es beginnt im Betrieb, im täglichen
Bemühen um die Umsetzung des Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist
unantastbar... jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner
Persönlichkeit..." Und: "Freiheit ist immer Freiheit des
Andersdenkenden" (Rosa Luxemburg). An diesen Maßstäben, finde ich,
sollte man sich selbst und seine "Interessenvertreter" messen. Was
berufliche Interessenvertreter betrifft, noch ein Zitat: "...wenn ich
stehen bleibe, treibt mich an..." (Che Guevara, Idealfigur unserer
KollegInnen in Lateinamerika).
Fritz Schmalzbauer
Anmerkung der Redaktion: Die Holzschnitte stammen von Gerd Arntz (1900 - 1988), einem Mitglied der Künstlergruppe Kölner Progressive.
Eines kapiere ich bei der ganzen Sache noch nicht so ganz: hat die Frau Nahles sich jetzt in Oberhausen für Allgemeinverbindlichkeit ausgesprochen oder sieht sie darin aus irgendwelchen Gründen eine "Falle" - wie genau passen diese unterschiedlichen Meldungen zusammen?
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