Zum 100. Geburtstag von Peter Weiss
Der Schriftsteller, Maler und Filmemacher Peter Weiss wird am 8. November 1916 in Nowawes bei Berlin geboren. Wegen seiner jüdischen Abstammung muss er 1934 Deutschland verlassen. Vor der Auswanderung stirbt seine Schwester Margit nach einem Verkehrsunfall. Weiss geht zunächst mit seinen Eltern und Geschwistern nach England, dann in die Tschechoslowakei, nach Warnsdorf. Er schreibt, malt, Hesse wird für ihn wichtig, nach einem Besuch bei diesem in Montagnola geht er nach Prag auf die Kunstakademie. 1939 folgt er den Eltern, die nach der Besetzung des Sudetenlandes nach Schweden emigriert sind. Nun "ganz ins Exil" verschlagen, beginnt der schwierige Prozess der Ablösung von den Eltern, der Versuch, sich als Maler zu behaupten, die Notwendigkeit, sich mit Brotarbeit durchzuschlagen.
Der Avantgardefilm wird in den fünfziger Jahren für die künstlerische Arbeit und Selbstver-ständigung wichtig. Fast ein Dutzend surrealistische und dokumentarische Filme dreht Peter Weiss bis zum Anfang der sechziger Jahre, Filme, deren experimentelle Bildsequenzen (wie schon die Malerei) immer wieder den menschlichen Körper und die Grundformen von Gewalt und Kampf andeuten. Mit seinem sozialkritischen Film über ein Jugendgefängnis in Schweden, "Im Namen des Gesetzes", gerät Weiss mit seiner Dokumentation der "nackten Wirklichkeit im Gefängnis" in Konflikt mit der staatlichen Filmzensur, eine publizistische Diskussion über die Zensur schließt sich an, Gewerkschaften und Arbeiterparteien demonstrieren gegen die staatlichen Eingriffe in die künstlerische Arbeit (Mai 1958).
Peter Weiss ist mehr als vierzig Jahre alt, als 1960 zum ersten mal ein Buch von ihm in Deutschland erscheint: "Der Schatten des Körpers des Kutschers", ein sprachexperimenteller und zugleich sensualistischer Prosatext, schon Anfang der fünfziger Jahre geschrieben, wird in der Bundesrepublik wie eine neue, avantgardistische Poetik rezipiert.
Die Radikalität der autobiographischen Prosa, "Abschied von den Eltern" (1961) und "Fluchtpunkt" (1962), die Unbedingtheit in der Erkundung seines Ichs und seiner Verklammerung mit der Familie, die unerbittlichen Erkenntnisse, dem zufälligen Überleben im Exil einen Sinn zu geben, treffen in der literarischen Öffentlichkeit kaum auf Verständnis.
Die großen politischen Dramen, die von 1964 bis 1971, von "Marat/Sade" über "Die Ermittlung", den "Gesang vom lusitanischen Popanz", den "Vietnam-Diskurs", "Trotzki im Exil" bis "Hölderlin" dem zeitgenössischen Theater eine neue gesellschaftliche Brisanz und künstlerische Ausdruckskraft erobern, verschaffen Peter Weiss eine weltweite Geltung.
Gerade darin dürfte die ungewöhnliche Intensität der theoretischen und literarischen Arbeiten von Peter Weiss liegen, die Einsicht von Sade, dass jede Revolution scheitern wird, solange nicht die "Gefängnisse des Innern" geöffnet werden, entspringt einer tiefgreifenden lebensgeschichtlichen Erfahrung, deren spannungsvolle Dynamik in den scheinbar widersprüchlichen Komponenten von poetischer Vision und historischer Recherche, Surrealismus und marxistischer Analyse, Hölderlin und Marx usw. auszumachen ist.
Das dreibändige Werk Die Ästhetik des Widerstands, das in den Jahren zwischen 1975 und 1981 veröffentlicht wurde, reflektiert die Debatten und Konflikte innerhalb der kommunistischen und antifaschistischen Bewegung zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Vordergründig erzählt der Roman die Geschichte eines 1917 geborenen Arbeitersohns in NS-Deutschland und in der Emigration. Dieser fiktive Ich-Erzähler durchläuft eine Entwicklung hin zum Autor und Chronisten des antifaschistischen Kampfs. Er verkörpert die politische wie die künstlerische Verantwortung gegenüber einem geschichtsphilosophischen Auftrag: „der umfassenden Selbstbefreiung der Unterdrückten“.
Ein Kernanliegen der im Zeitraum zwischen 1937 und 1945 angesiedelten Trilogie bildet die Reflexion des Verhältnisses von Kunst und Politik. Anhand von Werken der bildenden Kunst und der Literatur entwickelt Weiss Modelle für die Aneignung des proletarischen Kampfes gegen die Unterdrückung. Dabei verfolgt der Gesprächsroman im Sinne kritischer Selbstvergewisserung stets auch die Auseinandersetzung mit den Widersprüchen und Fehlern linker Politik sowie mit dem historischen Scheitern der Arbeiterbewegung.
Während der institutionalisierte Kulturbetrieb der Bedeutung der Trilogie erst spät gewahr wurde, wurde Die Ästhetik des Widerstands unter Linken in West- und Ostdeutschland bald populär. Das Werk entwickelte sich im deutschsprachigen Raum zum Kristallisationspunkt politisch-ästhetischer Lektürekurse und Diskussionsveranstaltungen. Eine Art Initialzündung für diese Rezeptionsform war die Berliner „Volksuni“ 1981. Dort fanden sich bereits mehrere Lesekreise zusammen, teilweise aus Studenten und Dozenten, teilweise aus außeruniversitären, insbesondere linksgewerkschaftlichen Kreisen.
Zur Anziehungskraft von Weiss’ dreibändigem Hauptwerk trug bei, dass der Autor jüngere deutsche Geschichte aus der Perspektive des Widerstands gegen den Nationalsozialismus erzählte.
Zur Anziehungskraft von Weiss’ dreibändigem Hauptwerk trug bei, dass der Autor jüngere deutsche Geschichte aus der Perspektive des Widerstands gegen den Nationalsozialismus erzählte.
Der monumentale Roman über die faschistische Epoche in Europa stellte ein Identifikationsangebot bereit, das im Kontext der Debatte um die Vergangenheitsbewältigung große Akzeptanz fand. In der DDR wurden alle drei Bände der Ästhetik des Widerstands 1983 in einer auf 5000 Exemplare beschränkten Erstauflage des Henschel Verlags veröffentlicht. Das Werk war bis zu einer Zweitauflage im Jahr 1987 infolgedessen nur unter Schwierigkeiten erhältlich. Angesichts der außergewöhnlich breiten Rezeption der Trilogie hat Gerhard Scheit Die Ästhetik des Widerstands als den „letzten gemeinsamen Nenner“ der deutschen Linken bezeichnet.
Aber dieser Roman ist zugleich eine Ästhetik des Widerstands, es gehört zum Schönsten, was je über Kunstwerke geschrieben wurde, mit dem Bewegendsten, was über den Widerstand zu schreiben war. Mehr als acht Jahre hat sich der Autor "mit diesem Roman-Leben", dessen Mühen die "Notizbücher" dokumentieren, "aufrecht" gehalten.
Nach der Fertigstellung des Romans nimmt Peter Weiss noch einmal die Bearbeitung von Kafkas "Prozess" vor. "Der neue Prozess" wird 1982 in Stockholm uraufgeführt, in einer Inszenierung, in der wie bei früheren Stücken Peter Weiss und seine Frau Gunilla Palmstierna-Weiss zusammengearbeitet haben. Zwei Monate später, am 10. Mai 1982, stirbt Peter Weiss in Stockholm.
Peter Weiss ist zweifellos einer der wichtigsten Autoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bezeichnend für die politische Lage der deutschen Literatur ist, dass auch nicht nur ansatzweise ein Gegenwartsautor von ähnlicher Bedeutung genannt werden kann.
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