Montag, 31. Oktober 2016

Licht ins Dunkeldeutschland


Biedermänner & Brandstifter (Teil 5) :  Was ist Populismus?
 
 

"Bestrebungen, die Interessenkonflikte zwischen »Volk« und »Elite« zum Dreh- und Angelpunkt der Politik zu machen, werden als rechtspopulistisch bezeichnet. Rechtspopulisten grenzen sich gleichermaßen nach oben: gegen eine »politische Klasse«, die sich dem »Volk« gegenüber entfremdet hat und dessen wahre Probleme ignoriert, wie nach unten: gegen »Arbeitsscheue«, »Asoziale« und (migrantische) »Sozialschmarotzer« ab.

Populismus ist mehr als eine Stilfrage und eine Agitationstechnik, worauf schon die ursprüngliche Wortbedeutung verweist, die den Anspruch damit Bezeichneter erkennen lässt, Politik im Namen des Volkes und/oder für das Volk zu machen. Je nachdem, ob man diese Zielgruppe im Sinne von »Ethnos« oder »Demos« versteht, bildet das »eigene« oder das »gemeine Volk« den Fixpunkt. Zwar haben Rechtspopulisten nur wenig Hemmungen, ihrerseits – etwa als Parlamentsabgeordnete oder Minister – die Privilegien der Mächtigen und Regierenden in Anspruch zu nehmen, verlangen von diesen jedoch, sich nicht persönlich zu bereichern, sondern selbstlos »der Sache des Volkes« zu dienen. Rechtspopulisten stellen die soziale Frage, beantworten sie aber mitnichten überzeugend. Meistens verknüpfen solche Gruppierungen die soziale mit der nationalen Frage, wo doch eine Verbindung von sozialer und demokratischer Frage nötig wäre.




Seit der Abspaltung ihres wirtschaftsliberal-nationalkonservativen Flügels um den Parteigründer und damaligen Bundesvorsitzenden Bernd Lucke versucht sich die »Alternative für Deutschland« (AfD) mit wachsendem Erfolg als »Sprachrohr der Armen und Arbeitslosen« zu profilieren und mit der sozialen Frage zu punkten, auf die sie ausweislich ihres Grundsatzprogramms gar keine Antwort hat: Nur mit Mühe und gegen den erklärten Wunsch der Vorsitzenden Frauke Petry hat sich die AfD auf ihrem Stuttgarter Programmparteitag im April/Mai 2016 zu einer Befürwortung des Mindestlohns durchgerungen. Gleichzeitig sprach sich die Mehrheit der anwesenden Mitglieder für eine Kommunalisierung der Arbeitsverwaltung und eine Verschärfung der Hartz-IV-Gesetzgebung (»aktivierende Grundsicherung«) aus.

Um zu verstehen, warum Millionen abhängig Beschäftigte der AfD vor allem bei den jüngsten Landtags- und Kommunal-, aber auch bei den Bundestags- und Europawahlen trotzdem ihre Stimme gegeben haben, muss man die Doppelzüngigkeit des Rechtspopulismus berücksichtigen, der marktradikale Botschaften meist eher unterschwellig mittels einer Minderheiten ausgrenzenden Dominanzideologie und einer sozialen Demagogie verbreitet. Während sich deutsche Angestellte, Selbständige und Freiberufler gegen soziale Aufsteiger, unangepasste Mitbewerber und ehrgeizige Migranten wehren, die angeblich nicht so fleißig sind wie sie, fürchten Einheimische der unteren gesellschaftlichen Schichten offenbar die Konkurrenz der Geflüchteten oder anderer Zuwanderer auf dem Arbeits-, Wohnungs- und Heiratsmarkt.

Wohlhabende, Besserverdienende und Hyperreiche fühlen sich von der AfD genauso angezogen wie die vom sozialen Abstieg bedrohten Mittelschichtangehörigen und die von Erwerbslosigkeit betroffenen Modernisierungsverlierer. Rechtspopulisten bieten unterschiedliche ideologische Zugänge für beide Zielgruppen: Sie verachten den »unproduktive« Mitbürger alimentierenden Wohlfahrtsstaat, der ihnen als Hemmschuh der Wirtschaftsentwicklung oder als Wachstumsbremse erscheint, und machen Arme verächtlich, verteidigen den Sozialstaat jedoch gegen vermeintliche Bemühungen der Flüchtlinge, ihn »auszuplündern«. Letzteren sprechen die Rechtspopulisten das Recht auf Transferleistungen ab, um sie für Angehörige des »eigenen Volkes« erhalten oder erhöhen zu können.








Varianten und Argumentationen



Historisch betrachtet war der Populismus Ausdruck einer kleinbürgerlichen Protestbewegung, die das Dilemma der Mittelschichten, sozial »eingeklemmt« und von zwei die Geschichte dominierenden Kräften bedroht zu sein, durch eine doppelte Abgrenzung – gegenüber den »korrupten Eliten da oben« und den »trägen Massen da unten« – aufzulösen versucht. Reicht die Angst vor dem sozialen Abstieg wie gegenwärtig bis in die Mitte der Gesellschaft hinein, fühlen sich insbesondere kleinbürgerliche Schichten akut bedroht, was irrationale Reaktionen auf Krisensymptome fördern kann. Heute sind die Möglichkeiten zum Aufstieg in einer Gesellschaft, die im Finanzmarktkapitalismus – wie zuletzt im Feudalismus – ein kastenartiges System bildet, für Kleinbürger so eingeschränkt, dass deren sozialer Absturz viel wahrscheinlicher ist. Umso energischer wenden sich Teile der Mittelschicht gegen »Faulenzer«, »Drückeberger« und »Sozialschmarotzer«, seien es nun einheimische oder zugewanderte.

Innerhalb des parteiförmig organisierten Rechtspopulismus kann man vier Strategievarianten bzw. Argumentationsmuster unterscheiden, die sich – wenngleich unterschiedlich stark ausgeprägt – sämtlich auch bei der AfD finden.

Erstens. Wenn die Kritik an einem vermeintlich überbordenden, die Volkswirtschaft lähmenden und den eigenen Wirtschaftsstandort gefährdenden Wohlfahrtsstaat im Mittelpunkt der rechten Propaganda steht, ist von »Sozialpopulismus« zu sprechen. Man nutzt den unterschwellig vorhandenen, oft in der politischen und medialen Öffentlichkeit geschürten Sozialneid gegenüber noch Ärmeren – in diesem Fall: den angeblich »faulen« bzw. »arbeitsscheuen« Erwerbslosen und Sozialhilfeempfängern –, um von den eigentlichen Verursachern der gesellschaftlichen Misere abzulenken.



Zweitens. Konzentriert man sich auf die Stigmatisierung und Diskriminierung von Straffälligen, plädiert energisch für »mehr Härte« der Gesellschaft im Umgang mit ihnen und nimmt besonders Drogenabhängige, Bettler und Sexualstraftäter ins Visier, handelt es sich um »Kriminalpopulismus«, der die »anständigen Bürger« gegen den »gesellschaftlichen Abschaum« mobilisiert und seine Kampagnen auf dem Rücken von sozial benachteiligten Minderheiten inszeniert. Häufig genug spielt die Boulevardpresse dabei eine unrühmliche Rolle als Sprachrohr einer intoleranten und illiberalen Mehrheitsgesellschaft.


Drittens. Steht der staatliche Innen-außen-Gegensatz bzw. die angebliche Privilegierung von (Flucht-)Migranten gegenüber den Einheimischen oder die »kulturelle Überfremdung« im Vordergrund, handelt es sich um Nationalpopulismus. Für ihn ist charakteristisch, dass die zunehmende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, übrigens vor allem ethnischer Minderheiten, nicht etwa als Konsequenz ihrer Diskriminierung (z. B. im Bildungsbereich sowie auf dem Arbeitsmarkt) und einer ungerechten Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen thematisiert wird, sondern vielmehr als Resultat der zu großen Durchlässigkeit bzw. Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge. Dieser Populismus wird als Angst vor einer »Überflutung« bzw. »Überfremdung« vornehmlich durch Muslime kultiviert.


Viertens. Sofern die »Systemfrage« in den Mittelpunkt rückt und vor allem die als »Politikverdrossenheit« oder »Wahlmüdigkeit« nur sehr grob charakterisierte und eher bagatellisierte Entfremdung vieler Bürger vom bestehenden Regierungs- bzw. Parteiensystem zum Thema populistische Propaganda wird, indem man den Eindruck erweckt, alle Mitglieder der »politischen Klasse« seien gleichermaßen korrupt und wüssten überhaupt nicht, wo das Volk der Schuh drückt, erreicht die Zuspitzung eine andere Qualität, was die Bezeichnung »Radikalpopulismus« rechtfertigt.





 


Armut und Sozialstaatsentwicklung

Rechtspopulisten haben seit jeher ein zwiespältiges Verhältnis zur sozialen Frage, deren Beantwortung sie unter Umständen als eine Gefährdung der Volkswirtschaft betrachten und nicht als staatliches Strukturprinzip akzeptieren, sondern gleich in mehrfacher Hinsicht demontieren bzw. deformieren:


Erstens fällt bei Rechtspopulisten die Tendenz zur »Ökonomisierung« des Sozialen ins Auge. Fast alle Lebensbereiche müssen sich dem Marktmechanismus unterwerfen. Sozial zu sein bedeutet für Rechtspopulisten nicht, sich gemäß humanistischer Grundüberzeugungen oder christlicher Nächstenliebe um arme, benachteiligte oder Menschen mit Behinderungen und ihre Probleme zu kümmern bzw. moralischen Verpflichtungen und ethischen Normen nachzukommen. Vielmehr opfern sie – insoweit dem neoliberalen Zeitgeist verpflichtet – das Soziale auf dem Altar der Konkurrenz, des Gewinnstrebens und der betriebswirtschaftlichen Effizienz.


Zweitens nehmen Rechtspopulisten eine Kulturalisierung des Sozialen vor. Für sie stehen nicht mehr materielle Interessen bzw. Interessengegensätze im Blickfeld, wenn man über die Entwicklung von Staat, Ökonomie und Gesellschaft spricht, sondern die kulturelle Identität. Diese wird nicht mehr über die Zugehörigkeit der Gesellschaftsmitglieder zu einer bestimmten Klasse, Schicht oder Gruppe definiert, die gemeinsame Interessen haben (und daher ein hohes Maß an Solidarität realisieren können, falls sie sich dessen bewusst werden), sondern nach kulturellen Übereinstimmungen, also gemeinsamer Sprache, Religion und Tradition.


Drittens ist eine Ethnisierung des Sozialen festzustellen. Je mehr die ökonomische Konkurrenz im Rahmen der »Standortsicherung« verschärft wird, desto leichter lässt sich die kulturelle Differenz zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft mit Bedeutung aufladen und als Ab- bzw. Ausgrenzungskriterium gegenüber Mitbewerbern um soziale Transferleistungen instrumentalisieren. Ethnisierungsprozesse haben zwei Seiten: Neben einer Stigmatisierung »der Anderen« bewirken sie eine stärkere Konturierung »des Eigenen« bzw. die Konstituierung einer nationalen bzw. »Volksgemeinschaft«, mit der weiter reichende Ziele verfolgt werden. »Deutsche(s) zuerst!« lautet ein rechtspopulistischer Slogan, mit dem solche Vorstellungen ebenso im Alltagsbewusstsein verankert werden wie mit von Neonazis skandierten »Ausländer raus!«-Parolen.


Viertens lässt sich im Rechtspopulismus eine Biologisierung der sozialen Frage erkennen. Gesellschaftlich bedingte Verhaltensweisen werden häufig an den Genen festgemacht. Da ist beispielsweise von einem »Siegergen« die Rede, das einem Spitzensportler im Wettkampf oder einem wenig erfolgreichen Topmanager im Tagesgeschäft vermeintlich fehlt. Auch der Demographiediskurs, d.h. die Art und Weise, wie über die Veränderung der (Alters-)Struktur unserer Gesellschaft gesprochen wird, gehört in diesen Kontext. Mit dem demographischen Wandel rückt die Humanbiologie ins Zentrum der Gesellschaftspolitik und entscheidet quasi wie ein naturgesetzlicher Sachzwang über Rentenhöhen und darüber, wie Sozialleistungen zu bemessen seien. Bevölkerungsprognosen, die apokalyptischen Katastrophenszenarien gleichen – sie sind durch die vermehrte Fluchtmigration längst überholt –, deuten darauf hin, dass die Angst von Neonazis und Rechtsextremisten, das deutsche Volk könne »aussterben«, die gesellschaftliche Mitte erreicht hat.










Geistiger Wegbereiter



Der frühere SPD-Politiker und Bundesbanker Thilo Sarrazin war einer der wichtigsten, wenn nicht gar der wichtigste geistige Wegbereiter des Rechtspopulismus à la AfD. Wer erfahren möchte, wie deren Funktionäre über Armut in Deutschland und die am meisten darunter Leidenden denken, sollte Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab« lesen. Dieses Pamphlet handelt nicht, wie fälschlicherweise meist angenommen, primär von dem Thema »Migration und Integration«, sondern war als Beitrag zur Diskussion um den deutschen Sozialstaat gedacht, wie im Nachwort ausdrücklich vermerkt ist.


Während seiner Tätigkeit als Berliner Finanzsenator hatte Sarrazin bundesweit für Furore gesorgt, als er der Öffentlichkeit im Februar 2008 einen »Menüplan« für Hartz-IV-Empfänger vorlegte, der Bratwurst und Sauerkraut enthielt. Dabei thematisierte er jedoch nicht bloß die angeblich fehlende Leistungsbereitschaft der Langzeitarbeitslosen, sondern auch die vermeintlich mangelhafte Integrationsfähigkeit der Migranten muslimischen Glaubens.


Der riesige Erfolg des Buches »Deutschland schafft sich ab« rührte vermutlich daher, dass Sarrazin seit fast zwei Jahrzehnten geführte Diskurse geschickt miteinander verbindet und zuspitzt, die infolge der globalen Finanz-, Weltwirtschafts- und europäischen Währungskrise virulent waren. Vornehmlich deshalb, weil Angehörige der Mittelschicht große Angst vor einem sozialen Absturz haben und für Katastrophenszenarien und Kassandrarufe empfänglich sind. Genannt seien in diesem Zusammenhang die entsprechenden Lesarten der verschiedenen Krisenmomente.


 1. im Falle der »Globalisierung«: »Wir können unseren Wohlstand nur bewahren, wenn sich Deutschland in der Standortkonkurrenz behauptet und die Bundesregierung radikale Reformen wagt«;


2. bei Fragen der Demographie: »Wenn nicht mehr (deutsche) Kinder geboren werden, fehlen uns die Arbeitskräfte, können die Renten für eine immer älter werdende Bevölkerung kaum noch erwirtschaftet werden und sterben die Deutschen längerfristig aus«;


3. zum Sozialstaat: »Hartz-IV-Bezieher sind gar nicht wirklich arm, sondern plündern uns aus, weil der Sozialstaat zu großzügig und daher kaum noch bezahlbar ist«;


4. in der Migrations- und (Des-)Integrationsfrage: »Wenn uns Zuwanderer – seit dem 11. September 2001 hauptsächlich: Muslime – überschwemmen und sich nicht integrieren bzw. anpassen (lassen), werden wir zu Fremden im eigenen Land«.


Schon als Berliner Finanzsenator hatte sich Sarrazin wiederholt abfällig über Hartz-IV-Bezieher geäußert und ihnen zuletzt geraten, sich – anstatt die Wohnung zu heizen – einen warmen Pullover anzuziehen und kalt zu duschen. Neben den unteren gesellschaftlichen Schichten in ihrer Gesamtheit macht Sarrazin vor allem die Migranten muslimischen Glaubens, übrigens gerade solche, die hierzulande aufgewachsen und also selbst gar keine Zuwanderer sind, sondern einer ethnischen und religiösen Minderheit angehören, für die finanzielle Überlastung des Wohlfahrtsstaates verantwortlich: »Aufgrund der üppigen Zahlungen des deutschen Sozialstaats ziehen wir eine negative Auslese von Zuwanderern an. Das Transfersystem setzt auf deren Fruchtbarkeit hohe Prämien aus und zieht so die migrantische Unterschicht von morgen heran.«


Durch die »Rundumversorgung« korrumpiere unser Sozialsystem die muslimischen Migranten, heißt es bei Sarrazin, indem es eine »Kultur der Hängematte« schaffe. In neoliberaler Manier unterzieht das SPD-Mitglied, dessen Buch von sozialdarwinistischen, rassistischen und rechtspopulistischen Stereotypen durchzogen ist, die europäischen Muslime einer ökonomischen Kosten-Nutzen-Rechnung: »In jedem Land kosten die muslimischen Migranten aufgrund ihrer niedrigen Erwerbsbeteiligung und hohen Inanspruchnahme von Sozialleistungen die Staatskasse mehr, als sie an wirtschaftlichem Mehrwert einbringen.«








Sarrazin beschönigt die Armut und bagatellisiert das Problem der wachsenden sozialen Ungleichheit, indem er völlig unangemessene Vergleiche zieht. Auf zeitlicher Ebene setzt er die soziale Lage der Armen bzw. Armutsgefährdeten heute mit jener der »Normalbürger« vor 50 Jahren in Beziehung: »Die Armutsrisikoschwelle in Deutschland ist heute höher als das durchschnittliche Nettoeinkommen der Deutschen auf dem Höhepunkt des Wirtschaftswunders Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.« Geographisch wird die soziale Lage einheimischer Hartz-IV- bzw. Sozialhilfebezieher mit der Einkommenssituation in weniger entwickelten europäischen Industrieländern verglichen: »Deutsche Transferempfänger leben wie der durchschnittliche Tscheche, aber deutlich besser als der durchschnittliche Pole und weitaus besser als der durchschnittliche Türke.«


Will man den Lebensstandard eines Menschen bestimmen, muss er grundsätzlich in Beziehung zum Wohlstand des je eigenen Landes gesetzt werden, und zwar natürlich jeweils zur selben Zeit. Denn wer hier und heute mehr oder weniger arm ist, vergleicht sich völlig zu Recht weder mit einem Durchnittsverdiener, der in Tschechien, Polen, der Türkei oder anderswo lebt, noch mit einem Deutschen, der vor Jahrzehnten auf einem gleichfalls geringen Wohlstandsniveau lebte, sondern mit jenen Mitbürgern, die teilweise viel mehr haben als er selbst.


Da er die strukturellen Zusammenhänge ausblendet und Armut deshalb auch nicht als gesellschaftlich bedingt erkennt, neigt Sarrazin zur Individualisierung, Moralisierung und Subjektivierung des Problems. Letztlich hält er Armut eher für ein mentales Phänomen: »Nicht die materielle, sondern die geistige und moralische Armut ist das Problem.« Glaubt man dem früheren Finanzsenator, führt Dummheit zur Armut, denn die Intelligenz der Menschen korreliert seiner Meinung nach stark mit ihrer Schichtzugehörigkeit und entscheidet angeblich über Chancen des sozialen Aufstiegs: »So gibt es eine 90prozentige Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus einer armen Unterschichtfamilie mit einem Durchschnitts-IQ von 100 der Armut entkommt, während es gut sein kann, dass ein dümmeres Kind aus einer Mittelschichtfamilie in Armut gerät.«


Zweifellos verhindern Bildungsdefizite vielfach, dass junge Menschen auf einem flexibilisierten Arbeitsmarkt sofort Fuß fassen. Auch führt die Armut von Familien häufig dazu, dass deren Kinder keine weiterführende Schule besuchen oder sie ohne Abschlusszeugnis wieder verlassen. Der umgekehrte Effekt ist hingegen kaum signifikant: Ein schlechter oder fehlender Schulabschluss verringert zwar die Erwerbschancen, wirkt sich aber kaum nachteilig auf den Wohlstand einer Person aus, wenn diese vermögend ist oder Kapital besitzt. Sarrazin vertauscht hier augenscheinlich Ursache und Wirkung miteinander: Armut macht zwar auf die Dauer eher dumm, Dummheit aber keineswegs arm.


Hartz IV zu beziehen, hat für ihn überhaupt nichts mit Armut zu tun, schließt sie im Gegenteil sogar aus, erscheint ihm doch das Arbeitslosengeld II gegenwärtig eher noch als zu hoch: »Das in Deutschland garantierte Mindesteinkommen ist nicht anstößig niedrig, sondern kommt den unteren Arbeitseinkommen anstößig nahe.« Dass man, um dem viel beschworenen »Lohnabstandsgebot« zu genügen, bloß mittels eines ausreichend hohen gesetzlichen Mindestlohnes dafür sorgen müsste, dass der Niedriglohnsektor in Deutschland nicht immer breiter wird, ignoriert Sarrazin. Statt dessen setzt er in der Arbeitsmarktpolitik auf das US-amerikanische »Workfare«-Konzept, fordert die Erhöhung des Drucks auf Erwerbslose und sympathisiert offen mit einer grundgesetzwidrigen Arbeitspflicht für solche, die auf »Transferleistungen« angewiesen sind, wie das beispielsweise auch der frühere hessische CDU-Vorsitzende und Ministerpräsident Roland Koch vorgeschlagen hat.







Auf Stammtischniveau



Schuld an der Misere von Sozialstaat und Gesellschaft haben für Sarrazin, der überall »Zeichen des Verfalls« sieht, Mitglieder der (einheimischen) »Unterschicht« und Zuwanderer, durch die Deutschland letztlich immer ärmer und dümmer werde. »Deutschland finanziert (…) einen Teil des muslimischen Proletariats, das in den Herkunftsländern keine Chancen sieht, die attraktiver wären als die deutsche Sozialhilfe. Ohne Änderung der sozialstaatlichen Rahmenbedingungen sind die Aussichten gering, dass sich die Parallelgesellschaften der muslimischen Migranten in Deutschland und Westeuropa mit der Zeit quasi automatisch auflösen.« Dass es sich bei der von ihm auf kulturelle Faktoren geschobenen und maßlos überschätzten Abschottung primär gar nicht um eine Form ethnischer, sondern um eine Manifestation sozialökonomischer Segregation handelt, verkennt der ehemalige Bundesbanker.


Über eine neoliberal inspirierte und nationalkonservativ orientierte Sozialstaatskritik auf Stammtischniveau, die durch Medienberichte über angeblich massenhaften Leistungsmissbrauch gefördert wird, gelangt Sarrazin nie hinaus. Populär geschrieben, bietet sein Traktat eine pseudowissenschaftliche Rechtfertigung der bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat den Bestseller seines Parteikollegen richtig charakterisiert: »Es ist ein Buch über ›oben‹ und ›unten‹ in unserer Gesellschaft und darüber, warum es nicht nur gerecht, sondern auch aus biologischen Gründen völlig normal ist, dass es dieses ›Oben‹ und ›Unten‹ gibt.«


Offenbar traf Sarrazin mit seinen polemischen Vorwürfen gegenüber sozial benachteiligten Minderheiten thematisch wie politisch-inhaltlich den marktradikal geprägten, aber auch von Deutschtümelei nicht freien Zeitgeist. Bei der neudeutschen Ideologie, die heute fast alle Lebensbereiche durchdringt, handelt es sich freilich weder um jenen »klassischen« Deutschnationalismus, der schon im Kaiserreich parteiförmig organisiert war und von gesellschaftlich einflussreichen Kräften, etwa dem Deutschen Flottenverein oder dem Alldeutschen Verband, propagiert wurde, noch um einen aufgeklärten Wilhelminismus, vielmehr um eine umfassend modernisierte Spezialvariante völkisch-nationalistischen Bewusstseins, die sich der Öffentlichkeit als legitime Reaktion auf eine verschärfte Weltmarktkonkurrenz präsentiert. Die Totalidentifikation mit der Nation ist wieder ausdrücklich erwünscht, geht es doch darum, Auslandseinsätze der Bundeswehr ideologisch zu begleiten sowie den Weltmarkt zu erobern und im Kampf mit anderen »Wirtschaftsstandorten« alle Kräfte zu mobilisieren."



Quelle: Christoph Butterwegge: "Zynischer Populismus", in: junge Welt, 10.10.2016

4 Kommentare:

  1. Der Text ist ein Brett, aber die mit Abstand beste Kurzdarstellung des Themas, die ich kenne.

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  2. Christoph Butterwegge und auch der Soziologie Michael Hartmann sind herausragende Sozialwissenschaftler, die dem neoliberalen Mainstream in Wissenschaft und Medien Paroli bieten. Danke für den Text.

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  3. Hervorragende Analyse, geniale Titel/Bild-Kombination!

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  4. Es lässt sich nicht alles mit der Einkommensschere erklären, die sich immer weiter öffnet, denn es macht sich in der Bevölkerung auch eine immer größere kulturelle Kluft bemerkbar, auf die die Linke keine überzeugende Antwort mehr hat. Was reitet z.B. die Integrationsbeauftragte Özoguz (SPD), sich nicht uneingeschränkt und unmissverständlich von den sogenannten Kinderehen zu distanzieren? Es kann doch nicht sein, dass bereits erkämpfte Werte jetzt schleichend wieder in Frage gestellt werden.

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