Samstag, 31. Oktober 2015

Ohne Patrone

- und die Demokratisierung der Demokratie

In unserem Blog wurde jüngst etwas höchst Bemerkenswertes geäußert, gewürdigt leider aber kaum - nicht mal eines kritischen Kommentares. Das Zitat, mit dem F. Schmalzbauers Bericht über >belegschaftseigene< Betriebe in Lateinamerika überschrieben war: "Wer ein Unternehmen führen lernt, lernt auch ein Land führen." Solch ein Satz verdient genauere Beachtung und Betrachtung - nicht weil er falsch wäre, sondern weil er es in sich hat.

Auffällig ist, dass ihn in der Regel dieselben Leute, die ihn für richtig halten, für Blödsinn hielten - und umgekehrt dieselben Leute, die ihn für Blödsinn halten, für richtig hielten, wenn er nicht von einer Arbeiterin, sondern einer Konzernchefin stammte. Mutatis mutandis immerhin scheint sein Inhalt nicht nur unter Sowjet-Nostalgikern, sondern unter Anhängern jeder politischen Couleur Beifall zu finden. Zumindest teilten Sig. Berlusconi, seine Parteifreunde und eine Mehrheit italienischer Wähler (ob mit Recht sei dahingestellt!) eine solche Auffassung langezeit ebenfalls.



Die Bedeutung der Worte scheint hier jedoch sehr von der Situation der Sprechenden abzuhängen - wie etwa ein Musiker auf dem Weg zum Konzert mit der Aussage, er habe seinen "Bass" vergessen, etwas anderes meint, als ein Oberfranke auf dem Weg zur Staatsgrenze. So dürfte es jener Frau bestimmt nicht darum gegangen sein, Parallelen zwischen Betriebswirtschaft und Politik zu ziehen, sondern aus ihr spricht mehr. Das Selbstbewußtsein der Arbeiter, die ihre Geschicke selbst in die Hand genommen und dabei zu einem tieferen Verständnis von Demokratie gefunden haben!

Willkommen im Club! - mag nun mancher >demokratieerbrobte< Mitteleuropäer denken: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Das wissen wir doch! Was für den einen noch der letzte Schrei ist, ist für den anderen schon ein alter Hut - könnte man glauben. Aber bedeutet Volkssouveränität wirklich nichts anderes als eine ewige Wiederkehr von Wählengehen und Machenlassen?

Längst ist es ein offenes Geheimnis, dass die Gesellschaften des Westens auf ein Übermaß an wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit zusteuern, das in der Weltgeschichte seinesgleichen sucht - keineswegs, weil sie müßten, sondern, weil sich eine Mehrheit, die immer rascher immer ärmer wird, von einer Minderheit, die immer rascher immer reicher wird, fortwährend weismachen läßt, dies sei >alternativlos< oder gar >innovativ< und folglich für alle das Beste. So sind hinter den Fassaden und Kulissen bürgerlicher Demokratie weitgehend unbemerkt, doch eifriger denn je die Plutokraten und Lobbyisten mit Abbruchbirne und Preßlufthammer am Werk.

Aufzuhalten und umzukehren ist der Siegeszug dieser staatlich geförderten Barbarei nur durch einen radikalen politischen Kurswechel. So oder so ähnlich schreibt J. Stiglitz in Reich und arm zur Lösung des Problems wachsender Ungleichheit in den USA:


Der Markt wird das nicht von sich aus leisten. (...) Allein eine Reform unserer Demokratie - dadurch, dass wir die Rechenschaftspflicht der Regierung gegenüber allen Bürgern stärken und erreichen, dass sie ihre Politik stärker am Gemeinwohl ausrichtet - wird es uns ermöglichen, die große Kluft zu überbrücken und den Wohlstand unseres Landes wieder gleichmäßiger zu verteilen.1


Die Auskunft allerdings, wer diese "wir" sein sollen, bleibt Mr. Stiglitz uns schuldig. Leute wie jene >Patriotic Millionaires< vielleicht, die sich (weil es in letzter Zeit so verdammt wenig Tellerwäscher zum Millionär bringen) langsam ernsthaft Sorgen um den >American Dream< machen? Hypage Satana! Ohne den Demos, der dafür kämpft, kann es keine Demokratie geben - nirgendwo! Der Anstoß zu ihrer Rettung muss von der Basis der Gesellschaft - vom Volk - ausgehen; sonst wird sie niemals gerettet sein, sondern bloß ein geborgener Leichnam.


Der Ausdruck >Volk< steht metonymisch für das, was treffend auch der "Anteil der Anteillosen" genannt wurde: die Masse der Benachteiligten und Ausgeschlossenen, die den Anspruch erhebt, das öffentliche Ganze zu verkörpern.2 Aber wie - lautet die Frage - soll das funktionieren in Staaten, für deren Bürger es fast zur politischen Normalität gehört, dass eine >überwiegende< Minderheit von Ultrareichen bei demokratisch legitimierten Regierungen Gesetze und Abkommen in Auftrag gibt, die allein ihr selbst von Nutzen sind?

Hier muss ein Lernprozess einsetzen - die Antwort lautet: Sapere aude! Besser auf das eigene Denken und Urteil vertrauen, statt sich beständig durch ideologisch schlagseitige Politiker und Ökonomen einnebeln zu lassen, die nicht nur verdächtig an G. Orwells Propagandaschwein Schwatzwutz erinnern, sondern obendrein auch meist so aussehen! Denn die Demokratisierung der Demokratie von unten ist möglich - nur, wenn jene zunehmend unterrepräsentierte und unterprivilegierte Mehrheit, auf deren Arbeit letztlich aller ungerecht verteilte Reichtum zurückgeht, sich dessen und damit ihrer eigenen Schlüsselrolle bewußt wird.

In dieser Hinsicht können Belegschaften selbstverwalteter Betriebe >ohne Patrone< das beste Vorbild sein. Bei ihnen beginnt Demokratie, wo sie bei uns fürgewöhnlich endet: im betrieblichen Alltag. Gerade deshalb weitet ihr Blick sich zugleich auf die wirtschaftlichen und sozialen und politischen Zusammenhänge, in denen sie agieren. Natürlich heißt das nicht, wir alle sollten morgen in Deutschland die Betriebe übernehmen und übermorgen die Räterepublik proklamieren - hätte beides gleichwohl seinen Charme. Doch auch bei uns fehlt es nicht an demokratischen Elementen wie etwa: Wahl von Betriebsräten, Betriebsversammlungen, betrieblicher Mitbestimmung.

Entscheidend bleibt, ob und wie Arbeitnehmer ein solches Instrumentarium nutzen. Wir können brav sein und es verschmähen. Wir können treu sein und es verwalten. Wir können aber auch kämpferisch, solidarisch und entschlossen sein, es über den Buchstaben des Gesetzes hinaus mit Leben zu füllen - und mehr noch: eine >Kultur der Beteiligung< zu schaffen. Der Weg dorthin ist weit und für alle, die ihn mitgehen, streckenweise steil und steinig. Aber er führt zu einer deutlicheren Sicht der herrschenden Verhältnisse, die sich in unserem eigenen Erleben widerspiegeln - und kraft ihrer Kenntnis lernen wir, unabhängiger und verantwortlicher zu handeln.

Doch wie? Mit einem Genitiv stimmt etwas nicht? Ja f... den Sick!

1 Stiglitz, J., Reich und arm. Die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft, München 2015 S. 19


2 Zizek, S., Ein Plädoyer für die Intoleranz, übers. v. A. Hofbauer, Wien 42009 S. 28 ff.

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