Ein Gespräch mit dem Theaterregisseur Manfred Wekwerth
In Ihrem Haus in Berlin-Grünwald gibt es eine ganze Wand mit Fotos und Plakaten aus einem langen Leben. Blicken wir zurück auf den Anfang: 1948 Abitur, Neulehrer, Mitglied einer Theatergruppe, 1950 Aufführung des Brecht-Stückes "Die Gewehre der Frau Carrar", vor der Sie eine Idee hatten...
Manfred Wekwerth: Wir kündigten in der Zeitung die Anwesenheit von Brecht an und schickten die Meldung nach Berlin, ans Berliner Ensemble (BE). Die Antwort Helene Weigels: Sie schickte uns zwei Busse, wir sollten das Stück in Berlin zeigen. Wir sind natürlich eingestiegen. Unwissen macht ja kühn. Wir spielten immerhin vor Ernst Busch, Erwin Geschonneck, Wolfgang Langhoff, Brecht und Weigel.
Nach der Aufführung kam ein kleiner Mann auf mich zu, etwas schüchtern, gab mir die Hand. Das war Brecht. Er wollte noch mit meiner Gruppe arbeiten. Das ging bis Mitternacht. danach sagte Brecht, dass wir weiter daran arbeiten sollten und wenn ich Lust hätte, könnte ich es im Berliner Ensemble machen.
Ein Angebot?
Ja. Das war 1951 im März. Seitdem war ich am BE, bis ich 1968 gekündigt habe wegen Differenzen mit der Weigel, die aber damals, als wir ankamen und später auch, wie eine Mutter zu uns war. Dieses BE war überhaupt ein "Wunderunternehmen" - da wurden Menschen nicht beurteilt nach Namen, sondern nach Leistungen.
Auch nach Neugier und Lernbereitschaft.
Natürlich. Im BE spielten damals Therese Giehse, als Gast Leonard Steckel, Angelika Hurwicz, Ernst Busch - also große Schauspieler mit viel Erfahrung. Aber es fehlte eine ganze Generation, die hatte der Krieg kassiert. Brecht hat sich mit ganz jungen Leuten umgeben. Wir waren damals so ungefähr acht Assistenten, darunter Charly Weber, Claus Küchenmeister, Wera Skupin, Egon Monk, Benno Besson.
Nach drei Tagen wurde ich Assistent bei der Neuinszenierung der "Mutter Courage". Da konnte es zum Beispiel passieren, dass das Telefon klingelte, Brecht ging ran und sagte zu mir: "Wekwerth, machen Sie die Probe weiter."
Und?
Dann musste man das machen. Ich war völlig perplex, aber das war das BE. Autoritäten spielten da keine Rolle. Diese Atmosphäre war einmalig.
Wie ist das entstanden?
Ganz klar aus der Arbeitsweise. Es gab einzelne Stars, große Schauspieler, aber die waren bereit, in der Gemeinschaft zu arbeiten, und diese Teamarbeit war im BE das Credo. Brecht brauchte das Gespräch. Wenn er ein Gedicht schreiben wollte, hatte er vorher mindestens ein Gespräch. Wenn man sagt, das BE war wirklich praktizierte Demokratie und aus der entsteht so großes Theater, dann ist das in dieser Arbeitsweise begründet.
Trotzdem ist Theater kein Hort der Demokratie - eigentlich herrscht eine ganz große Ungerechtigkeit: Die Begabung. Das wurde im BE akzeptiert. Da gab es ein Rollenfach - das gab es in keinem anderen Theater - das waren die, die Arbeiter gespielt haben, die kleineren Rollen, die die großen Rollen sozusagen getragen haben. Den König machen die anderen, heißt es im Theater. Das machte die Stücke im ästhetischen Sinne demokratisch. Diese Art kam durch Brecht in die Theaterarbeit. Hanns Eisler sagte, die Erfindung des Gestischen durch Brecht hat für das Theater die gleiche Bedeutung wie die berühmte Formel von Einstein für die Welt.
Inwiefern?
Indem es klärte, dass Theater natürlich Aufklärung leisten muss, aber ohne Genuss ist im Theater Aufklärung null und nichts. Der Begriff des Genusses war für Brecht das A und O seiner Ästhetik.
Das ist heute selbstverständlich.
Es gibt kein Theater, das völlig ohne Brecht auskommt. Es gibt kein Theater, an dem nicht das Wort Gestus vorkommt. Bei Leuten, die überhaupt nicht verstanden haben, was das ist. Die Brechtsche Terminologie hat Einzug gehalten und ebenso die epische Spielweise, dass man nämlich auf dem Theater Geschichten erzählt. Das heutige Theater, also das sogenannte Regietheater, will auf Geschichten verzichten, auf Fabeln, und setzt ganz auf die Genialität der Regisseure, aber die sind nicht so genial. Wenn sie Max Reinhardt wären, Peter Brook, Juri Ljubimow oder giorgio Strehler, dann hätte Regietheater einen Sinn. Aber sie sind meistens wesentlich schlechter als die Autoren, die sie spielen.
Wie war das am BE mit den Regisseuren?
Brecht war genial, Erich Engel auch. Ob ich genial bin, das überlasse ich anderen, ich finde es nicht. Es ging nicht darum, dass wir geniale Regisseure brauchten. Wir hatten eine Arbeitsweise, bei der das ganze Theater beteiligt war. Das ist mehr als heutiges sogenanntes Teamwork.
(...)
Wäre das BE auch in England denkbar gewesen?
Kaum.
Warum?
Weil die gesellschaftlichen Bedingungen dort ganz andere waren. Brecht war ein konsequenter Marxist und wendete sozusagen die materialistische Dialektik auf das Theater an. Und um ihn herum das ganze Land war auch bemüht, den Marxismus in die Realität zu führen, was scheiterte, weil man den Kasernenhofkommunismus für Sozialismus hielt. Die Teilnahme der Leute an ihrem Geschehen, dass sie ihr Schicksal in die Hand nehmen - diese Dinge waren hier im Ansatz vorhanden.
Brecht kämpfte darum, und die Aufnahme, die wir in Betrieben hatten, war großartig. Für uns war der Chemiebetrieb Buna fast ein zweites Theater. Es kamen ganze Züge - die bezahlte der Betrieb - mit Buna-Arbeitern zum BE zu "Galileo Galilei" oder zu "Mutter Courage". Die Weigel gründete eine Laienspielgruppe, der Komponist Paul Dessau eine Musikgruppe, Schall hatte eine Jugendlaienspielgruppe, Thate ebenso. Dieses Verankern des Theaters in der Wirklichkeit war einmalig.
Was wußten Sie über Brecht, bevor Sie zu ihm kamen?
Nach dem Krieg war ich 16, 17 Jahre und dumm wie Bohnenstroh, verblödet durch die Nazis. Meine Generation kannte weder Brecht noch Thomas Mann. Das Umdenken war ein Riesenprozess. Es war nicht so, dass die Nazis weg waren, die Russen oder Amerikaner kamen, und man hatte ein neues Weltbild. Bei vielen ist das alte ja bis heute noch geblieben.
In einer Rede zum 17. Juni 1953 sagt Brecht, dass es die DDR nicht geschafft habe, das Denken zu verändern.
Das stimmt so nicht. Er hat gesagt, dass es der DDR nicht gelungen ist, die Enteignung der großen Betriebe, die Verstaatlichung, den Aufbau eines neuen Schulwesens und die Bodenreform als die großen Errungenschaften darzustellen, die sie waren. Die Enteignung des Kapitals war die Hauptleistung der DDR. Den Leuten war das gar nicht bewusst, das heißt, sie blieben in der alten Zeit stecken.
Kam der 17. Juni für Sie überraschend?
Wir dachten, dass das Umdenken schon weiter sei. Aber völlig unerwartet kam er nicht. Der Boden war fruchtbar noch. Und man hat politisch so viel Fehler gemacht. Ich habe den 17. Juni dann an der Seite von Brecht auf der Straße miterlebt, am Columbiahaus diskutiert. Brecht schickte Elisabeth Hauptmann und mich zum Rundfunk: Das BE wollte für den einen Tag den Rundfunk übernehmen mit revolutionären Liedern, Appellen oder mit Vorschlägen zur Lösung der Konflikte. Aber die schickten uns nach Hause..
Drei Jahre später, 1956, stirbt Brecht.
Wenn ein Mann wie Brecht wegfällt, ist das für ein Land, für ein Theater ein unersetzlicher Verlust. Wir waren erschüttert, mit Mühen gingen die Proben weiter. Wir waren mitten in der Vorbereitung des England-Gastspiels mit dem "Kreidekreis". Ich kann mich entsinnen, wir hatten eine lustige Szene zu spielen. Auf der Bühne waren sehr viele Schauspieler, die laut lachen sollten - einen Tag nach seinem Tod. Ein Bild, fast schon kitschig: Erwachsene Männer, die lachen, und gleichzeitig laufen ihnen die Tränen.
Wie ging es weiter?
Es musste weitergehen. Wir waren gerade dabei, "Die Tage der Commune" uraufzuführen. Das war meine letzte Arbeit mit ihm. Aber da Brecht immer kollektiv arbeitete, entstand da kein Loch, sondern es entstand ein freier Platz, an den andere treten mussten, in dem Fall eben seine drei Schüler. Das waren Peter Palitzsch, Benno Besson und ich.
(...)
Als Akademiepräsident wurden Sie 1987 automatisch auch Mitglied des Zentralkomitees (ZK) der SED
Die Automatik war das Unerfreulichste. Ich bin nach zwei Jahren ausgetreten. Wir haben noch die Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 organisiert, BE und Deutsches Theater. Das hatte mit dem ZK nichts zu tun. Das ZK war eine Abstimmungsmaschine, leider.
Zuviele haben zu wenig widersprochen?
Sicher. Aus Bequemlichkeit, aus Feigheit und auch aus Disziplin, weil sie meinten, damit nützen sie dem Staat. In Wirklichkeit haben sie dem Staat schwer geschadet.
Warum sind Sie Mitglied der SED geworden?
Weil ich ein überzeugter Marxist war und noch bin. Dann haben wir gemerkt, dass innerhalb der Partei der Marxismus ziemlich auf den Hund kam und zur Glaubenssache wurde.
Und an der Wirklichkeit gescheitert ist?
Das Scheitern ist nicht allein das Scheitern der DDR, sondern eines ganzen Systems, das seinen Grundgedanken, den der Räterepublik, der Demokratie, der Volksherrschaft aufgegeben hatte und die Welt dem Kapitalismus überließ mit der absoluten Diktatur der Banken und Finanzen. Die Perspektivlosigkeit danach war für mich der schlimmste Bruch.
Ihre Hoffnung am 4. November 1989?
Dass Demokratisierung stattfindet. Aber da war es schon zu spät. Es war eine herrlich verlorene Sache. Das war eines der schönsten Endspiele, die ich erlebt habe.
Das Ende der Geschichte?
Nein, aber ein Rückschlag. Denn der Verlust von Alternativen ist für die Emanzipation der Menschheit eine Katastrophe. Aber vielleicht auch eine Erfahrung, die hilfreich sein kann bei einem erneuten Versuch, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". Das hat der junge Marx gesagt. Heiner Müller, sonst ein Skeptiker aus Leidenschaft, sah darin den "praktischen Glutkern des Marxismus", der seiner Meinung nach nie erlöschen wird.
Wohin galoppiert der Gaul Geschichte?
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Anmerkung der Infoblog-Redaktion:
Das Gespräch führte Burga Kalinowski mit Manfred Wekwerth im Januar 2012.
Wir danken der Redaktion der jungen Welt, insbesondere Dietmar Koschmieder, für die freundliche Genehmigung zum Abdruck des Textes, der am Sonnabend/Sonntag, den 29./30.November 2014 in der jungen Welt erschienen ist. Wir haben den Text leicht gekürzt.
Manfred Wekwerth ist am 16. Juli 2014 in Berlin im Alter von 84 Jahren gestorben.
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