Wir wollen den Rechten der abhängig Beschäftigten Geltung verschaffen –
nicht zuletzt den Rechten der besonders aktiven unter ihnen, der Betriebsräte.
Wir wollen Wege finden, Arbeitsrechte durchzusetzen. Deshalb müssen wir zuvor
ganz nüchtern die Situation analysieren.
Arbeit und Arbeitsrechte sind im gegenwärtigen westlichen Kapitalismus in
mehrfacher Hinsicht nicht existent, oder wenn, dann am häufigsten in Gestalt
gefälschter Statistiken.
Subpolitical topic – politisch
nicht relevant
Arbeit und Arbeitsrechte sind ein subpolitical topic, also politisch nicht
existent, wie noch nie in der jüngeren Geschichte. Arbeitsrechte gelten vor
allem im führenden Staat des Westens, in den USA und für global führende
Konzerne als subpolitical topic.
Arbeitsrechte zählen nicht zu den ansonsten hochgehaltenen Menschenrechten,
sei es unter republikanischen Präsidenten wie Bush und Trump, sei es unter
demokratischen Präsidenten wie Clinton und Obama. Finanziell, rechtlich und
moralisch niederwertige Niedriglohnsektoren und working poor werden in
den westlichen Metropolen und in globalen Lieferketten gezielt erweitert. In
den USA, in der EU und in Deutschland herrscht weitgehend ein
Arbeits-Unrechts-Staat.
Die zumindest von westeuropäischen Staaten früher ratifizierten Arbeitsrechte des UN-Sozialpakts – die Bundesrepublik Deutschland tat es 1973 – werden verdrängt und verletzt. Durch die vier Hartz-Gesetze und weitere Gesetze wird das Arbeits-Unrecht verrechtlicht. Der Staat fälscht Arbeitsstatistiken. Beim gelegentlich politisch verhandelten Mindestlohn scheint das Thema da zu sein. Aber weder dieser Hungerlohn in seiner armutsgenerierenden, kümmerlichen Niedrigkeit noch die millionenfache tägliche Nichtzahlung dieses Niedriglohns durch Unternehmer sind ein politisches Thema für die Regierenden.
Im Einigungsvertrag zwischen der BRD und der DDR haben sich die deutschen Regierungen 1990 verpflichtet, ein einheitliches Arbeits-Gesetzbuch zu beschließen – in der DDR hatte es ein solches gegeben.1 Die Arbeitsrechte sind aber auch im 29. Jahr danach immer noch auf Dutzende verstreute, uneinheitliche Einzelgesetze verstreut, die Hartz-Gesetze, Gesetze zu Betriebsverfassung, Mitbestimmung, Kündigungsschutz, Arbeitszeit, Teilzeit- und Befristung, Mindestlohn, Jugendarbeit, Arbeitsschutz und die Sonder-Arbeitsrechte für Beamte, Kirchenmitarbeiter und Medien undsoweiter. Zuletzt wurde der Vertrag 2017 angepasst. Aber alle bisherigen Regierungen und die beteiligten Parteien – SPD, CDU, CSU, Grüne, FDP – setzen beim Arbeitsrecht aus Angst vor dem Aufbrechen von Konflikten, die unter der Decke schwelen, ihren jahrzehntelangen Vertragsbruch fort.
Die Bundesregierung sorgt sich intensiv um das Arbeitsverhältnis des rechtsradikal affinen Präsidenten des Verfassungsschutzes, denn, so der zuständige Innenminister Seehofer: „Ich habe eine Fürsorgepflicht für meine Mitarbeiter.“2 Gleichzeitig hintertreibt dieselbe Bundesregierung mit der EU-Kommission in der UNO ein verbindliches Abkommen (binding treaty) über die Strafbarkeit von Unternehmen bei Menschenrechtsverletzungen – etwa bei Sklaven-, Zwangs- und Kinderarbeit – auch in internationalen Lieferketten.3 Aber da kennt die Bundesregierung auch für Arbeitsplätze im eigenen Land keine Fürsorgepflicht.
Media subtopic – medial unterbelichtet
Die Arbeitsrechte sind aber auch ein media subtopic. Auch die Leitmedien, die privaten wie die staatlichen, verdrängen verbissen das Arbeits-Unrecht sowie die Praktiken der Disziplinar- und Sanktionsanstalten, der Jobcenter. In den Leitmedien tauchen abhängig Beschäftigte gelegentlich als arme Opfer auf, als gehetzte teilzeitarbeitende Mütter mit Kleinkind. Oder demonstrierende Gewerkschafter auf öffentlichen Plätzen werden im Fernsehen schon mal gezeigt, aber sie sprechen nicht, sie dürfen nicht ihre Situation erklären, sondern sie dürfen auf Trillerpfeifen ein bisschen Lärm machen.
Über Straf- und Wirtschaftsprozesse berichten die Leitmedien, Sex and Crime – da tummeln sich die Journalisten. Aber die öffentlichen Verhandlungen der Arbeitsgerichte – da sind diese Journalisten fast immer abwesend.
Während die Meinungsfreiheit als einer der höchsten Werte der westlichen Welt hochgehalten wird, stellt die Meinungsfreiheit der abhängig Beschäftigten keinen Wert dar. Gegen die verhinderte Meinungsfreiheit eines Journalisten der unternehmernahen Zeitung Die Welt in der Türkei protestieren Bundesregierung und Leitmedien, zu Recht; aber wenn Beschäftigte der Deutschen Post in der Türkei eine Gewerkschaft bilden und dann gefeuert werden – da protestiert keine Bundesregierung, keine Arbeitsministerin und kein Leitmedium und auch nicht das meinungsfreiheitsliebende Leitmedium Die Welt.
Über Inhalte von Arbeitsverträgen herrscht sanktionsbewehrte Schweigepflicht. Betriebsräte werden mit Schadenersatzforderungen bedroht, wenn sie einen betrieblichen Konflikt öffentlich machen. Gegenüber Whistleblowern, die belegte Rechtsbrüche dem Staatsanwalt oder den Medien melden, haben die Unternehmer die Definitionshoheit über das, was den Arbeitsfrieden stört, unabhängig vom Wahrheitsgehalt und dürfen kündigen. Ein Gesetzentwurf der Großen Koalition will die schutzbedürftigen Geschäftsgeheimnisse jetzt noch enger fassen.4
Legal subtopic – rechtlich ignoriert
Die Arbeitsrechte sind auch ein legal subtopic. Wohl in keinem Bereich des Rechts und der Justiz besteht ein solches Vollzugsdefizit wie bei den Arbeitsrechten – ausgenommen vielleicht beim priesterlichen Missbrauch in der katholischen Kirche und Steuerflucht der Globalkonzerne. Wir von Aktion gegen Arbeitsunrecht haben dokumentiert: Keine Straftat wird so selten zur Anklage erhoben und führt so selten zu einer Verurteilung wie die Behinderung von Betriebsräten und die Verhinderung von Betriebsratswahlen durch Unternehmer und ihre Beauftragten.
In den Polizeiformularen für Strafanzeigen gibt es diesen Straftatbestand nach § 119 des Betriebsverfassungs-Gesetzes überhaupt nicht.5 Auch Bestechung und versuchte Bestechung, Erpressung und Nötigung von Betriebsräten und Aktivisten, die einen Betriebsrat gründen wollen, kommen eigentlich nie zu Anzeige, Anklage oder gar Verurteilung.
In § 1 des Betriebsverfassungs-Gesetzes heißt es: „In Betrieben mit mindestens fünf wahlberechtigten Arbeitnehmern werden Betriebsräte gewählt.“ Aber es gibt nur in 9 Prozent dieser Betriebe überhaupt einen Betriebsrat, wobei diese Zahl angesichts der vielfachen Auslagerung von Tochterfirmen noch übertrieben ist. Das Vollzugsdefizit besteht, weil die Betriebsräte und ihre Rechte so wenig geschätzt und geschützt sind. Weil heute die Wahl eines Betriebsrates, gerade in neuen Branchen, ein unkalkulierbares Abenteuer ist.
Und die Unternehmen haben aufgerüstet mit professionellem Union Busting. Wenn kleine aggressive Kanzleien und auch große „renommierte“ Arbeitsrechtskanzleien Schulungen durchführen, wie die Wahl von Betriebsräten verhindert oder in vorstandsdienliche Bahnen gelenkt werden kann – die Justiz geht nicht gegen diese professionelle Beihilfe zum Rechtsbruch vor.
Die Liste der straflosen Gesetzesverstöße der privatkapitalistischen Seite ist noch lang: Die etwa eine Milliarde der meist erpressten, unbezahlten Überstunden pro Jahr, das sind zumindest die offiziell dokumentierten unbezahlten Überstunden. Die Drohung mit einem „empfindlichen Übel“ – etwa mit Entlassung oder Schließung des Betriebs – ist die rechtliche Definition für Erpressung – Paragraph 253 Strafgesetzbuch. Weiter in der Liste: die millionenfach vorenthaltenen Mindestlöhne. Weiter: Beim sommerlichen Bau-Boom nimmt die Zahl der offiziellen Arbeitsplätze kaum zu.
Denn in jeder größeren Stadt wird ganz öffentlich ein Arbeiterstrich betrieben.6 Auch die Arbeitsausbeutung von Migranten bleibt meist straflos. Die Verletzung von Ankündigungsfristen für die Arbeitsschichten bei der Arbeit auf Abruf (Kapovaz, Kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit) bleibt straflos.7
Die von McKinsey, Accenture & Co dauerberatenen Jobcenter überziehen Arbeitslose jährlich mit mehr als 200.000 rechtswidrigen Bescheiden. Auch hier wird wie bei den unbezahlten Überstunden eine Dunkelzone ausgebaut, denn es wird einkalkuliert, dass viele Jobcenter-“Kunden“ demoralisiert sind und keinen Widerspruch einlegen.8
Kapitalistische Großbetrüger bleiben bekanntlich auch sonst straflos. Das sind nicht nur Banken, sondern auch zum Beispiel die großen Autokonzerne wie VW, BMW, Daimler, Audi. Ihre Chefs haben in organisierter Dauerkriminalität die Aufsichtsbehörden und Millionen Kunden mit hohem professionellem Aufwand und mit Duldung ihrer Großaktionäre wie BlackRock&Co betrogen. Und sie tragen nach wie vor selbstbereichernd dazu bei, das Klima anzuheizen, die Gesundheit von Millionen Menschen zu schädigen und die Sterblichkeitsraten insbesondere in den Städten in die Höhe treiben.
(...)
Arbeitsrechte als Teil der universellen Menschenrechte
Das mehrheitliche gewerkschaftliche Herangehen, das auf die Einhaltung der materiell geltenden Arbeits-Gesetze pocht und auf den Gang zum Arbeitsgericht orientiert, hat nie ausgereicht und reicht heute noch viel weniger, so wichtig auch jedes einzelne Verfahren ist. Die Vision muss davon ausgehen, dass Arbeitsrechte universelle Menschenrechte sind. Dazu gehört das Recht auf Arbeit überhaupt, aber schon gar nicht auf jede Arbeit, die man heute annehmen muss, um zu überleben.
Zu den universellen Menschenrechten gehört auch das Recht auf kollektive Interessenvertretung mit Streikrecht, auf gleichen Lohn für Frau und Mann, auf ausreichende Krankheits- und Rentenversicherung, auf bezahlten Urlaub, auf Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, die Ablehnung von Zwangsarbeit, das Recht auf menschenwürdige Wohnung undsoweiter undsofort – festgeschrieben in der UNO-Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte und bei den 200 Arbeitsrechts-Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO.23
Allerdings sind diese Rechte keineswegs überall auf der Höhe etwa der digital gestalteten und gestaltbaren Arbeitsverhältnisse und müssen weiterentwickelt werden.
Wenn es Obergrenzen für Staatsschulden geben kann, dann kann es auch Obergrenzen für Arbeitslosigkeit und für Arbeitszeiten geben, zum Beispiel. Und es kann auch das Recht von Betriebsräten geben, im Unternehmen mit zu entscheiden, wer das Unternehmen führt, welche Produkte und wie hergestellt und wofür die Gewinne verwandt werden.
Sich gemeinsam und dauerhaft zusammentun und kämpfen!
Der Knackpunkt zur Änderung und Überwindung des Arbeits-Unrechts-Systems ist es, dass die Vereinzelten nicht unzufrieden vereinzelt bleiben, sondern sich demokratisch und im Namen der Menschenrechte zusammentun, gemeinsam kämpfen, selbständig kämpfen und dies auf Dauer. Wir stehen dabei mitten in einem Umbruch.
Immer mehr Initiativen haben sich gebildet und bilden sich neu, mit und vielfach ohne Gewerkschaft. Sie fordern Rechte für klassisch abhängig Beschäftigte, aber auch für scheinselbständige Fahrradkuriere, für Honorarkräfte an Universitäten und Musikschulen, für Leiharbeiter, für journalistische free lancer, für professionell bekämpfte Betriebsräte und nicht zuletzt für Arbeitslose. Bei unseren bisher zweimal im Jahr organisierten Kampagnen Schwarzer #Freitag13 haben sich in der Abstimmung auf unserer Website und dann am Tag selbst verschiedene Gruppen in 15 bis 20 Städten beteiligt. Aber eine Daueraktivität ist das noch keineswegs, sondern ein Anstoß.
Wir wie andere Intitiativen freuen uns, wenn wir dann mal in den Medien wenigstens erwähnt werden oder sogar mal in tagesschau.de auftauchen wie bei unserer Kampagne gegen die prekären Arbeitsverhältnisse in der schwerreichen Textilkette H&M. Aber da sind wir den Launen der anderen Seite ausgeliefert. Das macht abhängig. Das ist schlecht. Deshalb sollten wir uns Urlaub von solchen Medien genehmigen und weniger allein zuhause im Internet herumsuchen. Wir sollten vielmehr kollektive und anspruchsvolle Medien aufbauen und selbst Forschungen organisieren. Mit videos zu unseren Aktionen und mit dem erfolgreichen crowdfunding für die Studie über die Situation prekärer Piloten in Europa haben wir dazu einen Anfang gemacht.
Wir können auch von Initiativen in anderen Staaten lernen. Ich denke da etwa an Nuit Debout (Aufstehen in der Nacht) in Frankreich, eine landesweite Bewegung, die Massenproteste gegen das Hartz-Imitat des Rothschild-Bankiers Macron auf die Beine stellen konnte. Oder ich denke an die Initiative Jobs with justice in den USA – auch gegen die Regierung von Präsident Obama und den Mindestlohn von 7 Dollar 25 Cent konnte sie für viele Beschäftigte etwa von McDonald’s mit einer breit, auch in Kommunalparlamenten unterstützten Bewegung, einen Stundenlohn von 15 Dollar erstreiken.
Diese Initiative Jobs with Justice, die mit Gewerkschaften zusammenarbeitet, organisiert jetzt auch ein mediales Projekt: Sie sammelt Fotos und videos von eigenen Aktionen des letzten Jahres, aber auch von anderen ähnlichen Gruppen, um damit für einen nationalen, digitalen Wandkalender zu erstellen.
Die Union Buster haben sich in nationalen und internationalen Arbeitsrechts-Organisationen zusammengetan. Wir halten es für notwendig, dass sich auch die gewerkschaftlich und menschenrechtlich orientierten Arbeitsrechts-Anwälte zusammenschließen.
Wir sollten, entgegen dem organisierten Vergessen, Verdrängen und Verfälschen der Arbeits- und Gewerkschaftsgeschichte unseren Horizont historisch vertiefen. Hier besteht auch ein historical subtopic. Deshalb beschäftigen wir uns heute Abend mit der Novemberrevolution vor 100 Jahren im katholisch und monarchisch versifften Köln. In anderen Städten sind solche Initiativen schon weiter und haben sich, wie ich erst vor einigen Tagen erfahren habe, bundesweit zusammengeschlossen.
Wir werden weiter dazu beitragen, den Schlaf des Arbeitsrechtes und der Menschenrechte zu stören. Wir wollen weiter neue Mitglieder gewinnen. Wir müssen diese Arbeit internationalisieren und vor allem auch auf Dauer stellen. Davon sind wir noch weit entfernt, aber wir und viele andere haben angefangen.
Die große Reise hat mit den ersten Schritten begonnen. Wir sind mittendrin.
Weiter geht’s!
Dr. Werner Rügemer ist der Vorstandsvorsitzende der aktion ./. arbeitsunrecht e. V.
Quelle: Eröffnungsrede der 1. politisch-juristischen Fachkonferenz Aufstehen und widersetzen in Köln von Werner Rügemer, 6. Oktober 2018
https://arbeitsunrecht.de/arbeitsrechte-als-menschenrechte-erkaempfen/#more-15208
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