Donnerstag, 9. November 2017

Die gebratene Ameise

Eine Geschichte von Paul Scheerbart

 

Bei den fleißigen Ameisen herrscht eine sonderbare Sitte: Die Ameise, die in acht Tagen am meisten gearbeitet hat, wird am neunten Tage feierlich gebraten und von den Ameisen ihres Stammes gemeinschaftlich verspeist. Die Ameisen glauben, daß durch dieses Gericht der Arbeitsgeist der Fleißigsten auf die Essenden übergehe.

Und es ist für eine Ameise eine ganz außerordentliche Ehre, feierlich am neunten Tage gebraten und verspeist zu werden. Aber trotzdem ist es einmal vorgekommen, daß eine der fleißigsten Ameisen kurz vorm Gebratenwerden noch folgende kleine Rede hielt:

»Meine lieben Brüder und Schwestern! Es ist mir ja ungemein angenehm, daß Ihr mich so ehren wollt! Ich muß Euch aber gestehen, daß es mir noch angenehmer sein würde, wenn ich nicht die Fleißigste gewesen wäre. Man lebt doch nicht bloß, um sich totzuschuften!«

»Wozu denn?« schrieen die Ameisen ihres Stammes – und sie schmissen die große Rednerin schnell in die Bratpfanne – sonst hätte dieses dumme Tier noch mehr geredet.


Paul Scheerbart (1902)

2 Kommentare:

  1. Na, da haben wir ja Glück, dass es bei Hugendubels nicht zugeht wie bei Ameisens. Uns will keiner braten. Wir dürfen nur für immer weniger Geld arbeiten und uns in die Taschen schauen lassen, weil unser Arbeitgeber uns als Diebe verdächtigt. Fragt sich nur: ist das, seine Art uns zu ehren, oder eine logische Schlussfolgerung aus seiner Tarifpolitik?

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  2. Taschenkontrollen bei den Mitarbeitern? Aber klar doch: "Inventurdifferenzen" versucht man nun den Mitarbeitern anzulasten. Denn für Diebstahlsicherung, genügend Ladendetektive, eine ausreichende Anzahl Mitarbeiter möchte die Geschäftsleitung schon lange nichts mehr ausgeben.

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