Montag, 17. Juli 2017

"Wenig Licht, viel Schatten"

Urteil zum Tarifeinheitsgesetz führt zu massiver Rechtsunsicherheit

Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) kritisiert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Tarifeinheitsgesetz. „Wenig Licht, viel Schatten“, kommentierte die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Andrea Kocsis im Anschluss an die heutige Urteilsverkündung in Karlsruhe. „Zwar ist das Gesetz in Teilen für verfassungswidrig erklärt worden, insofern hat sich unsere Beschwerde gelohnt, die Lösung von Tarifkonflikten überlässt das Gericht aber den Arbeitsgerichten“, so Kocsis.

Nun stelle sich aber die Frage: Wie soll ein Arbeitsgericht feststellen, ob die Minderheit in einem Mehrheitstarifvertrag ausreichend berücksichtigt wurde? Auch die Vorgaben an den Gesetzgeber, Minderheitsinteressen zu berücksichtigen, bleibe unklar. „Uneinheitliche Urteile und unzählige Prozesse drohen zu jahrelanger Rechtsunsicherheit zu führen.“ Gewerkschaften müssten nun immer wieder - vor, während und nach Tarifverhandlungen - den Beweis erbringen, ob sie die Mehrheiten an Mitgliedern in einem Betrieb haben.

Kritisch erachtet ver.di, dass die Regelung nun den Wettbewerb zwischen den Gewerkschaften anheizen werde. „Das Trittbrettfahrertum wird zum Nachzeichnungsrecht veredelt“, so Kocsis. „Anstatt Ruhe trägt das Urteil nun Unfrieden in die Betriebe!“


Und was ist mit dem Streikrecht?


Das kann noch Turbulenzen bringen. Und viel Arbeit für die Arbeitsgerichte. Auch soll der Gesetzgeber nochmals tätig werden, nämlich nachbessern. Am 11. Juli hat das Bundesverfassungsgericht das Tarifeinheitsgesetz für „weitgehend“ verfassungsgemäß beurteilt.

Nicht ganz, aber weitgehend. Mehrere Spartengewerkschaften, darunter die Ärztevereinigung „Marburger Bund“ und die Pilotenvereinigung „Cockpit“, sowie auch ver.di hatten gegen das Gesetz Beschwerde erhoben. Das Tarifeinheitsgesetz sei als verfassungswidrig zu bewerten, weil es einen Eingriff in die grundgesetzlich garantierte Koalitionsfreiheit und damit in das Streikrecht darstelle, so die Begründung der Beschwerdeführer.

Denn das seit 2015 geltende Tarifeinheitsgesetz sieht vor, dass bei Kollision mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb nur noch der Vertrag der Gewerkschaft gelten soll, die dort die meisten Mitglieder vertritt. Verträge der Minderheitsgewerkschaft wären damit verdrängt. Und faktisch würde es der Minderheitsgewerkschaft verwehrt, eigene Tarifverträge mittels eines Arbeitskampfes durchzusetzen.

Das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr ein Urteil gefällt, das vieles offen lässt und Klärungen an die Arbeitsgerichte und den Gesetzgeber verweist. So verlangt das Gericht, dass der Gesetzgeber das Gesetz bis Ende 2018 in mehreren Punkten nachbessert. Er soll Regelungen einziehen, die gewährleisten, dass in einem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft im Betrieb auch die Interessen der kleineren Verbände berücksichtigt sind. „Wir sollen also nicht mehr nur für unsere Mitglieder zuständig sein, sondern auch noch für die anderen mitdenken,“ bewertet dies der Leiter der ver.di-Rechtsabteilung, Professor Jens Schubert. Und Andrea Kocsis, die stellvertretende ver.di-Bundesvorsitzende wirft die Frage auf, wie denn ein Arbeitsgericht feststellen solle, „ob die Minderheit in einem Mehrheitstarifvertrag ausreichend berücksichtigt wurde“.


Der Härtefall

 

Überdies soll festgelegt werden, so verlangt es das Gericht, welche Leistungen in einem Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft nicht von einem Tarifvertrag der größeren Gewerkschaft verdrängt werden dürfen, weil das eine unzumutbare Härte wäre. Dazu sind längerfristig bedeutsame Vereinbarungen etwa zur Alterssicherung zu zählen. Abzusehen ist, dass die Frage, wann eine unzumutbare Härte vorliegt, vor den Arbeitsgerichten landen wird. „Zwar ist das Gesetz in Teilen für verfassungswidrig erklärt worden, insofern hat sich unsere Beschwerde gelohnt, die Lösung von Tarifkonflikten überlässt das Gericht aber den Arbeitsgerichten“, so Andrea Kocsis nach der Urteilsverkündung.
Als überaus gravierend für die Gewerkschaftsarbeit kann sich auch der Beschluss des Gerichts auswirken, dass künftig die kleinere Gewerkschaft im Betrieb den von der Mehrheitsgewerkschaft ausgehandelten Tarifvertrag „nachzeichnen“ kann, wie es juristisch lautet, sie also flugs auf ein besseres Verhandlungsergebnis aufspringen kann. „Das ist eine Vorschubleistung für Trittbrettfahrerei“, sagt Jens Schubert. Und Andrea Kocsis erklärt: „Das Trittbrettfahrertum wird zum Nachzeichnungsrecht veredelt. Anstatt Ruhe trägt das Urteil nun Unfrieden in die Betriebe.“

Keinen Regelungsbedarf sah das Bundesverfassungsgericht in einer anderen schwerwiegenden Frage: Was geschieht, wenn ein Arbeitgeber seine betrieblichen Geltungsbereiche so umstrukturiert, also zuschneidet, dass er mit der ihm genehmen Gewerkschaft verhandeln kann? ver.di hatte vor Gericht detailliert mehrere Beispiele für dieses Problem vorgetragen. Andrea Kocsis unmittelbare Reaktion auf das Urteil lautete dann auch: „Wenig Licht, viel Schatten.“
Und unklar bleibt nach diesem Urteil auch, ob damit ein Eingriff in das Streikrecht in Gänze abgewehrt ist. „Die Auswirkungen auf das Streikrecht bleiben abzuwarten, wenn das Gericht das Gesetz in diesem Punkt auch eher abgemildert hat“, sagt der ver.di-Rechtsexperte Schubert. In der Urteilsbegründung heißt es: Das grundgesetzlich „geschützte Recht, mit den Mitteln des Arbeitskampfes auf den jeweiligen Gegenspieler Druck und Gegendruck auszuüben, um zu einem Tarifabschluss zu gelangen, wird durch die angegriffenen Regelungen nicht beeinträchtigt.“ Die Praxis muss es zeigen.


Quelle: ver.di Publik


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