Montag, 21. September 2020

Arbeitsrechtsreform auf Eis gelegt

 Regierung verschleppt Pläne zur Eindämmung 
sachgrundloser Befristungen
 

 

Die Pläne der großen Koalition, die exzessive Nutzung sachgrundloser Befristungen einzudämmen, stehen auf der Kippe. Das berichtete am Mittwoch die Süddeutsche Zeitung (SZ) mit Verweis auf die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion von Bündnis90/Die Grünen. Wegen der Herausforderungen der Coronakrise müssten andere Vorhaben, »im allgemeinen Befristungsrecht«, hintangestellt werden, heißt es in der Replik des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), die junge Welt vorliegt. Damit droht ein weiteres sozialpolitisches Versprechen unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung unter den Tisch zu fallen.

Kommt es so, wäre das eine Schlappe mehr für die mitregierende SPD. Auf ihr Betreiben hin war der Punkt in den Koalitionsvertrag aufgenommen worden. Darin steht geschrieben: »Sachgrundlose Befristungen werden wieder zur Ausnahme, das unbefristete Arbeitsverhältnis soll wieder zur Regel werden in Deutschland. Endlose Kettenbefristungen werden abgeschafft.« Nun also doch nicht? Dafür spricht nicht nur der Umstand, dass sich die laufende Legislaturperiode ihrem Ende zuneigt und die Zeit knapp wird. Die SZ ist im Besitz einer Prioritätenliste des BMAS, auf der mehrere Vorhaben mit einem Schraubenschlüsselsymbol versehen sind, was »in Arbeit« bedeutet. Das Thema sachgrundlose Befristung gehört nicht dazu und wird erst weiter unten aufgeführt – ohne Schraubenschlüssel und ohne Zeitplan.

Die Bekämpfung der Pandemie und ihrer Auswirkungen stünden derzeit im Fokus des BMAS, heißt es in dessen Antwort auf die Grünen-Anfrage. Andere Ziele müssten »hinter den Maßnahmen zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes und der Abmilderung sozialer Folgen« zurückstecken. Das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Es ist anzunehmen, dass gerade eine stärkere Flexibilisierung des Arbeitsmarkts regierungsintern als das bevorzugte Mittel zu dessen »Stabilisierung« angesehen wird und deshalb alles, was die unternehmerischen Freiheiten beschränken könnte, auf den Index muss. Die Pläne zur Beschränkung der sachgrundlosen Befristung sind also nichts, was die Regierung schweren Herzens opfert. Im Gegenteil will man das Werkzeug retten, um der Wirtschaft in der Krise beizustehen.

Das Instrument bringe »für Arbeitgeber (...) volle Flexibilität. Für die Beschäftigten bedeutet sie jedoch Willkür und ein hohes Maß an Unsicherheit«, konstatierte die Grünen-Abgeordnete und Initiatorin der Anfrage, Beate Müller-Gemmeke, in einer Stellungnahme gegenüber jW. »Es ist abstrus, dass eben diese Coronakrise, die die Situation befristet Beschäftigter noch verschärft, jetzt dafür herhalten muss, dass die Bundesregierung die lautstark angekündigte Reduzierung der Befristungen jetzt doch nicht auf den Weg bringt.« Dazu passt, dass sich die Regierung für die Verluste an Jobs, die in der Pandemie auf das Konto der Befristungen gehen, offenbar nicht interessiert. Gefragt danach beschied das BMAS, dazu lägen »keine Erkenntnisse vor«.

Gemäß einer im März veröffentlichten Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI), das in die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung eingegliedert ist, hat sich die Zahl sachgrundloser Befristungen zwischen 2001 und 2018 mehr als verdreifacht. Allein von 2017 auf 2018 legte der Wert um 200.000 auf insgesamt 1,8 Millionen zu. In ihrem Regierungsprogramm hatten Union und SPD angekündigt, dass Unternehmen mit mehr als 75 Beschäftigten künftig höchstens 2,5 Prozent der Belegschaft auf Basis solcher Kontrakte anstellen dürfen. Die Verträge sollen dabei maximal für die Dauer von 18 statt bislang 24 Monaten zulässig sein und in diesem Zeitraum nur einmalig statt dreimalig verlängert werden können.

All die guten Absichten dürften sich fürs erste erledigt haben. Und dass die SPD ihre »Herzensangelegenheit« irgendwann nach der kommenden Bundestagswahl wird umsetzen können, erscheint auch eher abwegig. Das BMAS unter Führung von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sieht keinen Grund für solche Befürchtungen. Das Thema stünde »nach wie vor auf der Agenda«, wenngleich andere Probleme momentan Priorität hätten, erklärte eine Pressesprecherin am Mittwoch auf jW-Anfrage und weiter: »Ausgang offen.« Müller-Gemmeke von der Grünen-Fraktion gibt darauf nichts. Eine Reform werde nicht einmal mehr angekündigt. »Der Grund dafür ist nicht Corona, sondern der fehlende politische Wille dieser Koalition. Das ist bitter.«

 

Quelle: Ralf Wurzbacher: Arbeitsrechtreform auf Eis gelegt, in: junge Welt, 18.09.2020, S.5

5 Kommentare:

  1. Soviel zur Kunst, um den heißen Brei herumzuschleichen. Es geht hier um "Pläne der großen Koalition" und eine "Antwort der Bundesregierung" auf eine Anfrage aus der Opposition. Die SPD ist aber nicht in der Opposition, sondern in der Regierung. Was unter dieser Regierung geschieht bzw. drei Jahre lang unterlassen wurde, ist also nicht "eine Schlappe mehr für die mitregierende SPD", sondern vor allem Ergebnis bzw. Nicht-Ergebnis ihres Mitregierens und daher auch etwas, das sie mit zu verantworten hat.
    Und wenn "eine stärkere Flexibilisierung des Arbeitsmarkts regierungsintern als das bevorzugte Mittel zu dessen »Stabilisierung« angesehen wird", dann muss dabei eigentlich auffallen, dass die SPD nicht 'regierungsextern' ist, sondern der Regierung angehört, d.h. so 'regierungsintern' ist, wie eine Partei nur sein kann.
    Dass also eine Beschränkung und Eindämmung befristeter Arbeitsverhältnisse "ihre »Herzensangelegenheit«" sein soll, geht daher schlicht und ergreifend an der Wahrheit vorbei. (Manche Menschen sprechen in solchen Fällen sogar von Lügen.)
    Der langen Rede kurzer Sinn: man muss nicht auf jedes Framing hereinfallen. Als Arbeitnehmer*innen und Gewerkschafter*innen sollten wir uns lieber überlegen, wohin wir bei der nächsten Wahl unsere Kreuzchen malen.

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  2. Für einen Gewerkschafter oder lohnabhängig Beschäftigten ist die SPD seit 1914 sowieso nicht mehr wählbar.

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  3. Warum? 1914 Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD-Reichstagsfraktion, Kumpanei mit dem nationalen Kapital um Teil des Systems werden zu können, Verrat am Internationalismus der Arbeiter*innenbewegung, Kniefall der Gewerkschaften in der Zentralarbeitsgemeinschaft für den industriellen Massenkrieg, nach 1918 Zerstörung der Räterevolution durch die MSPD. Der sozialdemokratische Kriegsminister Noske: "Einer muß den Blithund machen", wofür er später von Göring noch gelobt wird. Undsoweiterundsofort.

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  4. Der kürzlich verstorbene Wolfgang Clement ist ein Prototyp für die politische Verkommenheit der SPD: mitverantwortlich für die Agenda-2010-Politik, Kuratoriumsvorsitzender der Arbeitgeber-Propagandatruppe Initiative Neue Soziale Martwirtschaft (INSM), gutdotierter Frühstücksdirektor einer Zeitarbeitsfirma und zuletzt völlig folgerichtig im Dunstkreis der FDP.

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