Mittwoch, 13. November 2019

Die soziale Marktwirtschaft war nie sozial

 Neues Buch zur "Sozialen Marktwirtschaft"

Ludwig Erhard

Der einstige Wirtschaftsminister und Kanzler Ludwig Erhard wird bis heute als "Vater des Wirtschaftswunders" verehrt.  
Doch den Aufschwung West-Deutschlands nach dem Krieg hätte es auch ohne ihn gegeben.
 (Foto:  DGB/Peter Bouserathm/KAS-ACD)


Der Mythos von der "sozialen Marktwirtschaft" verdeckt bis heute außerordentlich geschickt, wie ungerecht es in der Bundesrepublik zuging und zugeht. Statt auf sozialen Ausgleich zu setzen, vertrauten Ludwig Erhard und seine Nachfolger blind dem Markt und verfestigten so die ungleiche Vermögens- und Einkommensverteilung.


Bis heute sind die allermeisten Deutschen überzeugt, dass sie in einer "sozialen Marktwirtschaft" leben, die von Ludwig Erhard höchst persönlich erfunden wurde. Diese soziale Marktwirtschaft, so geht die Legende, sei einzigartig in Europa, und nur ihr wäre das "Wirtschaftswunder" zu verdanken.

Nichts davon stimmt. Deutschland war nie besonders sozial – und eine besondere Wirtschaftsverfassung gab es hier auch nicht. Stattdessen ging es nach dem Zweiten Weltkrieg weiter wie zuvor: In den Großkonzernen dominierten die alten Eliten.


Der Slogan "soziale Marktwirtschaft" fand sich erstmals 1949 im CDU-Wahlprogramm und sollte angeblich einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus weisen. Das klang nach Ausgleich und nach Mitte und wirkte sympathisch auf ein erschöpftes Volk, das von politischen Extremen genug hatte.

Ludwig Erhard hielt Sozialpolitik für überflüssig, ja schädlich

 

Den meisten Wählern fiel gar nicht auf, wie missverständlich das Konzept war. Die „soziale Marktwirtschaft“ strebte nämlich mitnichten eine ausgebaute Sozialpolitik an, sondern behauptete im Gegenteil, dass der freie Markt an sich schon sozial sei. Man müsste nur für ungehinderten Wettbewerb sorgen und schon sei der „Wohlstand für alle“ garantiert.

Die Idee war: Der Markt hat immer Recht. Das Prinzip der Konkurrenz würde faire und niedrige Preise erzwingen, von denen auch der kleine Mann profitiert. Sozialpolitik wäre daher überflüssig und sogar schädlich, weil sie die postulierte Harmonie der Marktkräfte nur stören würde. Wettbewerb sei „der tragende Pfeiler der sozialen Marktwirtschaft“ versprach Erhard immer wieder, der damals als Wirtschaftsminister amtierte. Während er Rede um Rede hielt, geschah jedoch das Gegenteil: Die bundesdeutschen Großkonzerne wuchsen weiter und konsolidierten ihre Macht.

Selbst die Alliierten konnten diesen Prozess nicht stoppen. Die USA hatten nach dem Krieg unter anderem durchgesetzt, dass der Chemiegigant I.G. Farben "entflochten" werden sollte. Am Ende wurde das Konglomerat zwar tatsächlich in die drei Firmen BASF, Bayer und Hoechst zerlegt – aber auf eigenen Wunsch. Der einstige Mammutkonzern hatte sich als zu unbeweglich erwiesen, und die drei neuen Betriebe waren auch einzeln immer noch groß genug, um ihr jeweiliges Segment zu beherrschen.

Ölgemälde einer Gruppe Männer in Anzügen, die in Sesseln und auf einem Sofa um einen Tisch sitzen. Alle sind mittleren Alters und sehen wohlhabend aus.  
Der Aufsichtsrat der I.G. Farben, u.a. mit Carl Bosch und Carl Duisberg (beide im Vordergrund in den Sesseln sitzend), 
ließ sich 1926 in Öl verewigen. Trotz der Entflechtung nach dem Krieg änderte sich an den Eigentumsverhältnissen
in den Nachfolgefirmen wenig. DGB/Herrmann Groeber/Gemeinfrei


Diese scheinbare Entflechtung ist bis heute aufschlussreich, weil sie wie im Brennglas die ökonomischen Machtverhältnisse in der Bundesrepublik bloßlegt. Die Chemie-Industrie hatte nämlich schon im Vorfeld sichergestellt, dass sie die Entflechtung politisch kontrollieren würde – indem sie zeitweilig das zuständige Ressort im Wirtschaftsministerium gekapert hatte. Beide Abteilungsleiter stammten aus der Chemie-Industrie und kehrten dorthin zurück, nachdem die I.G. Farben erfolgreich abgewickelt worden war.

Erhard hingegen konnte schon deswegen keinen Einfluss nehmen, weil er völlig uninformiert war, wie man in der Chemie-Industrie ebenso amüsiert wie erfreut feststellte. Im September 1950 befasste sich Adenauers Kabinett mit dem Thema I.G. Farben, und ein Branchenlobbyist wusste anschließend zu berichten: "Als der Kanzler zur Stellungnahme aufforderte, ergab sich, dass der Minister (Erhard) keinen eigenen Plan hatte und auch keine Vorarbeiten für eine solche Meinungsbildung vorlagen." Ein Vertreter der Chemieindustrie habe daher "in seiner Gutmütigkeit … den gewünschten Bericht diktiert."

Großkonzerne kontrollieren 66,7 Prozent des Umsatzes in Deutschland

 

Die alten Strukturen in den Großkonzernen waren also längst wieder gefestigt, als 1958 Erhards „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ in Kraft trat. Damit entstand zwar das Bundeskartellamt, das aber niemals politische Bedeutung entfaltete, obwohl es ab 1973 nicht nur Kartelle, sondern auch Fusionen kontrollieren durfte. Trotzdem wurden Zusammenschlüsse nur selten verhindert, wie etwa der VW-Konzern zeigt, der heutzutage zwölf Tochterfirmen unter seinem Dach vereinigt. Die Eigentümerfamilien Porsche und Piëch kontrollieren – in alphabetischer Reihenfolge – Audi, Bentley, Bugatti, Ducati, Lamborghini, MAN, Porsche, Scania, Seat, Skoda, VW und VW Nutzfahrzeuge.

Die bundesdeutsche Wirtschaft ist extrem konzentriert, wie sich an einer einzigen trockenen Zahl erkennen lässt, die sich im neuesten Statistischen Jahrbuch findet: Die Großkonzerne machen nur 0,7 Prozent aller Firmen in Deutschland aus – aber sie kontrollieren 66,7 Prozent des Umsatzes.
Erhards Vision der Marktwirtschaft blieb also reine Fiktion, denn der von ihm postulierte Wettbewerb stellte sich nirgends ein. Stattdessen setzte sich in der Bundesrepublik ein Trend fort, der schon im Kaiserreich begonnen hatte: Die Firmen wurden immer größer und versuchten, Konkurrenz möglichst zu vermeiden.

Eine Reihe von bunten VW Käfern nebeneinander von vorne rechts nach hinten links.  
Volkswagen war mit seinem Käfer ein Beispiel für den Erfolg des Wirtschaftswunders. 
Doch ausgerechnet VW war ein Staatsunternehmen und zeugte nicht davon, dass die Wirtschaft 
 möglichst frei floriert. (Foto: DGB/Hans Splinter/Flickr/CC BY-ND 2.)
 

Gerade weil die personelle Kontinuität zur NS-Zeit so groß war, musste dringend der Eindruck erzeugt werden, als hätte es eine Wirtschaftsreform gegeben und als hätte sich die Bundesrepublik in eine "soziale Marktwirtschaft" transformiert. In Wahrheit gab es diese neuartige Marktwirtschaft nicht, sondern es dominierten die alten Konzerne und die alten Eliten.

Die "sozialen Marktwirtschaft" konnte dennoch zur zentralen Legende der Bundesrepublik werden, weil ein enormer Aufschwung einsetzte, der bis heute gern „Wirtschaftswunder“ genannt wird. Die Zahlen sind tatsächlich beeindruckend: Von 1950 bis 1973 legte die bundesdeutsche Wirtschaft pro Kopf um durchschnittlich fünf Prozent zu. Ein Rekord war es dennoch nicht. Italien kam ebenfalls auf fünf Prozent, und Spanien erreichte sogar 5,8 Prozent pro Jahr und Kopf. Fast alle europäischen Staaten erlebten starkes Wachstum.

Die Vermögensverteilung in Deutschland kann nur als Skandal bezeichnet werden

 

Völlig unerheblich war übrigens, ob die Regierungen an die "freie Marktwirtschaft" glaubten oder Schlüsselindustrien verstaatlicht hatten. Der Aufschwung setzte überall ein, ohne dass die jeweilige offizielle Wirtschaftspolitik den Ausschlag gegeben hätte. Ein interessantes Beispiel ist Österreich, das einen einsamen Rekord in Westeuropa hielt: Von 1950 bis 1966 arbeiteten 31 Prozent aller Erwerbstätigen entweder gleich beim Staat oder in öffentlichen Betrieben. Trotzdem wuchs die Wirtschaft dort pro Kopf genauso schnell wie in Westdeutschland. Aber auch in der Bundesrepublik ließ sich beobachten, dass ausgerechnet staatliche Betriebe florierten. Der VW-Konzern stieg zu nationalem Nimbus auf – war aber im Besitz der öffentlichen Hand.

Die "soziale Marktwirtschaft" hat nie existiert und war nicht mehr als ein Slogan, mit dem die CDU ihre Wahlkämpfe bestritt. Trotzdem war diese Legende nicht folgenlos. Denn sie verdeckte außerordentlich geschickt, wie ungerecht es in der Bundesrepublik zuging. Bereits 1955 klagte der Präsident des Statistischen Landesamts von Baden-Württemberg, dass "die Vermögensverteilung in der Bundesrepublik nur als ein Skandal bezeichnet werden" könne.

Der Reichtum ballte sich bei wenigen Familien, wie der Ökonom Wilhelm Krelle ermittelte: 1960 verfügten 1,7 Prozent der privaten Haushalte über 35 Prozent des Gesamtvermögens. Vor allem aber kontrollierten sie 70 Prozent des sogenannten Produktivvermögens, also der Firmen, Geschäftsimmobilien und Ländereien. Die Bundesrepublik war eine ausgeprägte Klassengesellschaft, obwohl sie offiziell als "soziale Marktwirtschaft" firmierte.

An diesem Paradox hat sich nichts geändert. Auch heute sind Vermögen und Einkommen höchst ungleich verteilt – während ständig die Segnungen der "sozialen Marktwirtschaft" beschworen werden."



Quelle: Ulrike Hermann, Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen,

zitiert nach: Gegenblende DGB-Debattenmagazin

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