Mittwoch, 4. September 2019

Aufladen und ausbeuten

Hinter den Kulissen der Mikromobilität

Bildergebnis für e-scooter wikipedia


In deutschen Großstädten fahren und stehen seit Mitte Juni nun auch noch tausende Elektroscooter rum. Die Arbeitsbedingungen für die Menschen, die sie nachts aufladen, sind oft ausbeuterisch. Auch sind die Gefährte nicht umweltfreundlich. Doch bei der aktuellen Aufregung gerät das zentrale verkehrspolitische Problem aus dem Blick.


Von Annette Jensen

Halb neun morgens – Rush-Hour auf der Bernauer Straße in Berlin: Viele Radler*innen strömen in Richtung Innenstadt auf dem Weg zur Arbeit, der Fahrradweg ist viel zu schmal, und seit Mitte Juni müssen sie den Platz auch noch mit Elektrorollern teilen. Niemand weiß genau, wie viele der neu zugelassenen Gefährte in der Hauptstadt rumstehen und -kurven. Schätzungen gehen von etwa 5.000 aus. Laut Gesetz sollen die bis zu 20 Stundenkilometer schnellen E-Scooter Radwege nutzen und nur dort, wo es keine gibt, auf der Straße fahren. Tatsächlich aber sind viele dieser Motorroller auch auf Bürgersteigen unterwegs. Weil bisher keine Parkplätze für sie eingerichtet wurden, stehen sie überall herum und gefährden dabei insbesondere Alte, Blinde und Sehbehinderte.

 

Überflüssiges Spielzeug


In Metropolen wie Berlin, Köln oder München gab es bereits reihenweise Unfälle, allein in den drei Städten wurden schon im ersten Monat über ein Dutzend Schwerverletzte registriert. Der Deutsche Städtetag kritisiert die überstürzte Einführung und unklare Regelungen. Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) koffert ­zurück: Die Kommunen sollten stärker kontrollieren und bei Verstößen durchgreifen. Für den fließenden Verkehr aber ist die Polizei zuständig – und die ist Ländersache. So wandert der schwarze Peter hin und her.

In Paris, Wien, Washington oder Singapur sind die Kleinstgefährte schon länger unterwegs, in Deutschland durften sie ab Mitte Juni losfahren. Manche Zeitgenoss*innen preisen E-Roller als umweltschonende Transportmöglichkeit, andere kritisieren sie als überflüssiges Spielzeug, das vorwiegend von Touristen genutzt wird und den eh schon stressigen Großstadtverkehr noch gefährlicher macht. In Marseille müssen Ordnungshüter*innen inzwischen dauernd E-Scooter aus dem Hafenbecken ziehen, die Leute absichtlich dort reingeschmissen haben.

Hierzulande sind die neuen Zweiräder das heiße Diskussionsobjekt des Sommers. „Das viel wichtigere Thema geht dabei unter: Autos nehmen mit Abstand den meisten Platz ein“, sagt Weert Canzler, Verkehrsexperte beim Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Der Straßenraum sei nun einmal begrenzt und müsse neu verteilt werden, so seine Forderung. Doch auch die Klimadebatte hat nichts daran geändert, dass die Zahl der Autos immer weiter steigt und inzwischen 47 Millionen PKWs in Deutschland rumfahren und -stehen. Besonders fatal: Die Wagen werden immer größer und schwerer. Hatte ein Durchschnittsauto vor 20 Jahren noch 100 PS unter der Haube, sind es inzwischen 153. Jedes dritte neu zugelassene Auto in diesem Frühjahr war ein SUV.

 

9 bis 13 Euro für eine Stunde


Im kommenden Jahr will Berlin nun vielleicht einige Autoparkplätze als Abstellmöglichkeiten für E-Roller umwidmen, heißt es. Abwarten. Auch von dem groß angekündigten und sogar gesetzlich verankerten massiven Ausbau der Fahrradwege in der Hauptstadt ist bisher so gut wie nichts zu sehen. Und so kommen sich die Zweiradnutzenden immer stärker in die Quere.
Fast alle E-Roller in Deutschland gehören bisher Leihunternehmen – manche sind Neugründungen, andere international unterwegs. Sie heißen Circ, Voi, Bird, Tier oder Lime und arbeiten alle nach einem ähnlichen Prinzip. Wer einen Roller ­nutzen will, muss nur rasch die App des Anbieters auf sein Smartphone laden, ­seine Bankverbindung oder Kreditkartennummer eingeben und bekommt dann angezeigt, wo in der Nähe ein freier Roller rumsteht. Für eine einstündige Spritztour werden 9 bis 13 Euro fällig.

12 bis maximal 25 Kilometer kann ein solches Gefährt zurücklegen – dann ist die Batterie alle. Abends sammeln Menschen die Roller ein, um sie über Nacht auf­zuladen und sich so ein paar Euro dazuzuverdienen. Am originellsten daran sind die englischen Jobbezeichnungen wie Juicer, Ranger oder Hunter – Fruchtpresse, Feldhüter oder Jäger. Einige Firmen engagieren 450-Euro Kräfte, die die Gefährte mit Lieferwagen einsammeln. Die US-­Firma Lime dagegen erwartet, dass die Beschäftigten ein Auto haben und die Roller in der eigenen Wohnung oder Werkstatt aufladen. Vier Euro bringt ihnen das pro Stück, allerdings müssen Sprit und Strom – etwa 30 Cent pro Akkuladung – selbst bezahlt werden.

Auch für Sozialabgaben und Steuern sind die Juicer allein zuständig. Die Abholstandorte werden ihnen per Smartphone angezeigt, immer mal wieder kommt es zu Rangeleien, wenn mehrere Leute die gleichen Roller einladen wollen. Am nächsten Morgen müssen die Gefährte zu nachtschlafener Zeit an vom Unternehmen angegebenen Orten abgestellt werden. Wer zu spät liefert oder die Batterie nicht komplett aufgeladen hat, muss mit deutlichen Abzügen rechnen. „Für die sogenannten Juicer bei Lime ist selbst der gesetzliche Mindestlohn von 9,19 Euro pro Stunde in weiter Ferne. Das ist Ausbeutung pur. Wie können Städte ein solches Geschäfts­modell zulassen?“, fragt ver.di-Gewerkschaftssekretär Gerd Denzel, tätig im Fachbereich Besondere Dienstleistungen.

 

Ersatz für klima-neutralen Fußweg


Und wie sieht es mit der Umweltfreundlichkeit der E-Roller aus? Gedacht sind sie vor allem für Kurzstrecken – als Zubringer zur U-Bahn oder als rasches Transportmittel zwischen zwei Sehenswürdig­keiten. Studien dazu gibt es nicht, aber es ist kaum anzunehmen, dass sie die Zahl der Autofahrten vermindern. Wahrscheinlich ersetzen sie vor allem klimaneutrale Fuß- und Radwege. Zwar verpesten Elektro­scooter die Atmosphäre nicht unmittelbar. Werden sie aber mit dem durchschnittlichen Strommix in Deutschland betankt, so basiert ihr Antrieb gegenwärtig noch zu 40 Prozent auf Kohle. Außerdem werden sie in der Regel von benzin- oder dieselbetriebenen Fahrzeugen zum Aufladen transportiert.

Abends sammeln Menschen die Roller ein, um sie über Nacht aufzuladen und sich so ein paar Euro dazuzuverdienen. Am originellsten daran sind die englischen Jobbezeichnungen wie Juicer, Ranger oder Hunter – Fruchtpresse, Feldhüter oder Jäger.

Entscheidender sind allerdings die Ressourcen, die zur Herstellung der  Gefährte benötigt werden. Der Energieaufwand für die Herstellung der Lithium-Ionen-­Batterie entspricht der Reise eines Mittelklassewagens von Frankfurt nach Köln. Hinzu kommt, dass Nickel, Kobalt, Lithium und seltene Erden wie Neodym und Dysprosium verbaut werden. Für deren Förderung in zum Teil extrem trockenen Regionen wird viel Wasser benötigt. Zudem kommen zur Lösung der Rohstoffe aus den Gesteinen hochgiftige Substanzen zum Einsatz, die die Gesundheit der Anwohnenden gefährdet. Oft sind die E-­Roller schon nach kurzer Zeit kaputt – ausgelegt sind sie auf eine Nutzungsdauer von ein bis eineinhalb Jahren. Und nur ein Teil der Teile wird wiederverwendet oder recycelt.

 

Und dann noch der SUV


Die sogenannte „Mikromobilität“ gilt heute als großes Geschäft der Zukunft. Nicht nur E-Roller, sondern auch schmale Elektrofahrzeuge mit Regenschutz und Sitzbank liegen im Trend. In Deutschland wurden im vergangenen Jahr darüber hinaus fast eine Million Pedelecs verkauft – jedes vierte Neufahrrad ist inzwischen mit Elektrounterstützung ausgestattet. Die Unternehmensberatung McKinsey prognostiziert bis 2030 einen 500-Milliarden-Markt weltweit. Schließlich wachsen die Metropolen rasant, immer mehr Menschen leben in Millionenstädten. Schon heute geht es dort oft nur noch im Schritttempo voran. Zugleich sind mehr als die Hälfte aller Fahrten in Städten kürzer als acht Kilometer.

Zwischen 350 und 400 Euro zahlen die Verleih-Unternehmen für einen E-Roller, von denen der allergrößte Teil in China gefertigt wird. Auch deutsche Auto­firmen wollen auf dem neuen Markt mitmischen. So hat VW ein kleines City-­Dreirad und einen Roller entwickelt, der 45 Stundenkilometer schafft. Zugleich brachte der Konzern im Mai jedoch auch einen neuen 421 PS starken Achtzylinder auf den Markt und freut sich über den steigenden Absatz seiner Touaregs. Die SUV schlucken durchschnittlich 15 Liter Benzin oder über 10 Liter Diesel, sind jetzt fast fünf Meter lang und auch noch breiter als die Vorgängermodelle. Darüber aber hat man in diesem Sommer kaum etwas gelesen.


Quelle: ver.di publik

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