Zwei Bücher über Ungleichheit
Die reichen Länder Westeuropas und
Nordamerikas stehen politisch und sozial, wie es scheint, kurz vor dem Kollaps.
Schuld ist freilich weder unkontrollierte Zuwanderung noch ideologische
Überfremdung, sondern eine tiefgreifende Unzufriedenheit und Ungerechtigkeit.
Zwei Bücher zweier
Wirtschaftswissenschaftler, die sich in letzter Zeit dieses Problems angenommen
haben, verdienen deshalb besondere Beachtung: Anthony B. Atkinson, Ungleichheit. Was wir dagegen tun können,
übers. v. H. Kober, Stuttgart 2016. Und: Branko Milanovic, Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der
Mittelschicht, übers. v. St. Gebauer, Berlin 2016.
Entgegen den üblichen
Gepflogenheiten seiner Zunft betrachtet der britische Ökonom Anthony Atkinson
die zunehmende Umverteilung der Einkommen und Vermögen von unten nach oben –
vor allem in den nordamerikanischen und westeuropäischen Ländern – weder als
notwendiges Übel noch als eine zu vernachlässigende Größe, sondern als das
desaströse Resultat gewollter und gezielter politischer Fehlentscheidungen: für
die Reichen – gegen die Armen.
Aus der historischen Retrospektive
zeigt er, welche staatlichen Eingriffe und Maßnahmen dazu geführt haben, dass
die Ungleichheit lange Zeit kontinuierlich abnehmen konnte, seit den 1980er
Jahren aber rasant wieder hochschnellt. Eine Schlüsselrolle kommt hierbei
jeweils der Steuer- und Sozialpolitik zu, die in der Vergangenheit für eine
wirksame Umverteilung von oben nach unten sorgte.
Atkinson stellt fest: „In den
Jahrzehnten unmittelbar nach dem Krieg hatte der Wohlfahrtsstaat im Wettlauf
mit der wachsenden Ungleichheit der Markteinkommen die Nase vorn, doch seit den
Achtzigerjahren gelingt ihm das nicht mehr – häufig infolge der politischen
Entscheidung, Einschnitte in den Sozialleistungen vorzunehmen und den Kreis der
Bezugsberechtigten einzuschränken.“
Auch bei der Verteilung der
Arbeitsentgelte und Kapitaleinkommen selbst gab es Phasen, in denen die
Ungleichheit bei steigendem Anteil der Lohnquote am Volkseinkommen abnahm.
Ermöglicht wurde dies einerseits, weil Gewerkschaften stark genug waren, durch
ihre Verhandlungen mit Arbeitgebern eine geringere Lohnstreuung zu erzielen –
andererseits, weil Regierungen sich nicht scheuten, wie in Großbritannien etwa
durch die Festsetzung von Mindestlöhnen in den Arbeitsmarkt einzugreifen.
Hieraus lässt sich eine wohl nicht
neue, aber nach wie vor überzeugende Lehre für die Zukunft ziehen. Um mehr
soziale Gleichheit herzustellen, bedarf es der entschiedenen Absage an das
politische Abstinenz-Gebot des Neoliberalismus. Der Staat muss sich einmischen.
Denn er „kann erheblichen Einfluss auf die Markteinkommen nehmen und spielt
deshalb eine wichtige Rolle …, am deutlichsten aber ist sein Einfluss bei der
umverteilenden Besteuerung … und der Gewährleistung der sozialen Sicherheit.“
Diese Vorschläge hätten zweifellos verdient im öffentlichen und medialen Diskurs wieder einen breiteren raum einzunehmen. Sie überschneiden sich teilweise mit denen des ehemaligen Weltbank-Chefökonomen Branko Milanovic, der jedoch weit stärker als sein britischer Kollege auf eine Umverteilung der Markteinkommen setzt. Vor allem aber sieht er die Ungleichheitswende in Westeuropa und Nordamerika sehr viel deutlicher im Zusammenhang weltweiter Entwicklungen.
Globalisierung ist daher aus seiner
Sicht ein zweischneidiges Schwert: sie hat durch das zunehmende
Wirtschaftswachstum in den sogenannten Schwellenländern – vor allem China und
Indien – die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen zwischen Menschen in
ärmeren und reicheren Ländern statistisch insgesamt verringert, doch die Kluft
zwischen reich und arm innerhalb fast aller Länder vergrößert.
Im reichen Westen ging diese
Entwicklung teilweise mit einer erheblichen Schwächung der Mittelschicht
einher, durch die dessen demokratische Systeme immer mehr in Gefahr geraten. In
Amerika droht die mehr oder minder offene Umwandlung der Gesellschaft zur
Plutokratie, in Europa könnten Populismus und Nativismus als Reaktion auf einen
wachsenden Globalisierungsdruck zur Unterwanderung der freiheitlichen
Demokratien führen.
Ihre Stabilität hängt wesentlich
davon ab, ob es auf politischem Weg gelingt, den Anstieg sozialer Ungleichheit
rückgängig zu machen. Auch Milanovic setzt hierbei auf staatliche
Interventionen, die längerfristig für Ausgleich sorgen sollten: vor allem hohe
Erbschafts- und Körperschaftssteuern sowie Maßnahmen, die bei niedrigen und
mittleren Einkommen den Erwerb und Besitz von finanziellen Vermögenswerten
begünstigen, und Förderung der öffentlichen Bildung.
Vielfache Kritik erntete die
Forderung nach einer Politik, die sich dem Problem des mit der Globalisierung
steigenden Migrationsdrucks stellt: „Eine solche Politik würde die
Globalisierung auf den vergessenen Produktionsfaktor – die Arbeit – ausweiten
und durch Migration die Armut in der Welt verringern.“
Hierzu sollten einerseits
Herkunfts- und Aufnahmeländer zusammenarbeiten. Dabei müssten Lösungen gefunden
werden, um durch Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte entstehenden Schaden
zu kompensieren. Andererseits wird eine „Neudefinition der Staatsbürgerschaft“
empfohlen, nach der diese an Immigranten befristet vergeben oder an eine
Sondersteuer gekoppelt sein könnte, die nicht zuletzt ihren Herkunftsländern
zugutekommen sollte.
Damit wirft vor allem dieser letzte
Vorschlag sehr grundsätzliche Fragen auf, weil der Autor hier das Ziel, die
ungleichen Lebensbedingungen des ärmeren teils der Menschheit zu verbessern,
offen über das Prinzip der formalen Rechtsgleichheit aller Bürger stellt. Doch
macht dies sein Buch gewiss nicht weniger lesenswert. Es bietet zum Thema der
globalen Ungleichheit einen guten Einblick in verständlicher Sprache. Wer
begreifen will, was augenblicklich in unserer Welt vorgeht, ist bei ihm deshalb
an der richtigen Adresse.
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