Montag, 10. September 2018

Fitnessstudio Hugendubel

Beim Arbeitgeber unerwünscht: Industriestehhilfe mit Tellerfuß



In den orthodoxen Kirchen gibt es einen alten Marienhymnus, der so feierlich und ehrwürdig anmutet, dass er nicht im Sitzen gesungen werden darf. Er wird deshalb Hymnos Akathistos genannt. Unsere Chefs scheinen der Tätigkeit der Buchhändlerin und des Buchhändlers ähnlich hohe Wertschätzung entgegenzubringen – zumindest was ihren Widerstand betrifft, die Arbeitsplätze in ihren Läden vorschriftsgemäß mit Sitzmöbeln oder Stehhilfen auszustatten. Man sollte indes Arbeit nicht mit Gottesdienst verwechseln, und mag dies angesichts des Arbeitgebervorschlages, sich bei Tarifverhandlungen mit Himmelslohn zu begnügen, auch nahe liegen.


Eines jedenfalls ist sicher: was du nicht im Geldbeutel hast, das musst du in den Beinen haben. Da ist nicht nur Stehvermögen gefragt, da geht es rund ohne Rast und Ruh. ALF und AFK sind angesagt: ALLE AUF DIE FLÄCHE und AKTIV VERKAUFEN! Und während König Kunde – in sträflicher Unkenntnis solch kluger Konzepte – einfach weiterhin zielstrebig unsere Servicepunkte und Bibliografierstationen ansteuert, sausen wir nun kreuz und quer durch unsere Läden, um ihn überall abzufangen und anzusprechen – außer natürlich dort, wo er es erwartet. Eine Kollegin, die sich den verpönten Luxus gegönnt hat, zwischendrin noch einen – vielleicht letzten – klaren Gedanken zu fassen, bemerkte dazu: Ich komme mir vor wie in einem Fitnessstudio.


Wem schon die Beschäftigten leidtun, so werden jetzt manche denken, der soll mal überlegen, was erst jene armen Teufel mitmachen, die nichtsahnend in eine Buchhandlung spazieren, um sich umzuschauen. Plötzlich kommen seltsame Mischwesen, halb Revolverheld, halb Comicfigur, auf sie zugestürmt, die an Hüftgurten etwas tragen, das einem Angst einjagt. Insider freilich wissen, dass es sich bei diesen Aliens um ambulante Bibliografierstationen handelt, und dass das gefährlich aussehende Ding kein Colt, sondern ein mobiles KKM (Kundenkontaktmanagement) ist, mit dem sich weder töten noch sonst viel ausrichten lässt. Deshalb wird am Ende meist alles gut. Die Kunden geben auf und sagen sich: Wenn du wüsstest, wie du aussiehst!


Doch bleibt auf Dauer leider nicht aus, dass immer weniger Leute immer weniger Bücher kaufen. Sie sind halt irgendwie blind dafür, wie sehr unsere Filialen – von oben betrachtet – durch Personalabbau und Zentralisierung an Attraktivität gewonnen haben und gewinnen werden. Was also tun? Weil Chefs bekanntlich stets alles richtig machen, scheidet eine Lösung von vorneherein aus: in Management und Verwaltung etwas zu ändern. Lieber sucht man die Schuld bei der Belegschaft vor Ort – oder besser gesagt: beim traurigen Rest der von ihr übrig ist – und wirft uns vor, wir würden nicht offensiv genug verkaufen. Bei Verdacht wurde in bisher zwei bekannten Fällen erst eine Abmahnung angedroht, dann ein Aufhebungsvertrag angeboten.


Unsere Geschäftsführung geht stillschweigend davon aus, dass alle sonstigen buchhändlerischen Aufgaben sich selbst erledigen. Du solltest also den Fehler vermeiden, dich bei solchen Arbeiten – z.B. Verräumen eines Buches oder gar Lesen eines Klappentextes – erwischen zu lassen. Die kontinuierliche Verbesserungspolizei schläft nicht! Die sehen das – und zwar von höherer Warte aus und vom hohen Ross herab. Denn anders als der Kunde, dem ja sogar egal wäre, in welcher Körperposition und welchem Ladenquadranten man ihn bedient, solange er am Ende hat, was er will, wissen sie, was zählt: Powerselling an einem Point of Sale, der zwar Punkt heißt, aber kein Punkt ist, sondern die Umlaufbahn, auf der du gefälligst deinen faulen … zu bewegen hast.


Die Crux mit solchen Maßnahmen und der Grund ihres voraussichtlichen Scheiterns ist, dass sie kaum Ausdruck und Ergebnis vernünftiger Überlegungen sind, sondern eher einer blindwütigen Überheblichkeit. Alles handelsübliche Herumschwadronieren, wie kundenorientiert und serviceorientiert man sei und wie wichtig dies sei, vermag über eine ganz offensichtliche Tatsache nur schwer hinwegzutäuschen: genau so wenig, wie unsere Chefs von ihren Kunden halten, halten sie auch von ihren Beschäftigten. Der einzige Unterschied ist: bei den einen wird nur Dummheit vorausgesetzt, bei den anderen obendrein auch noch Bequemlichkeit. 

Wer weiß – vielleicht wäre hier eine kleine Korrektur am Menschenbild fürs Geschäft ja ganz gut?




10 Kommentare:

  1. Wir sollen die eierlegende Wollmilchsau sein und am Besten umsonst arbeiten.

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  2. Genau. Das kanns aber nicht sein. Totale Kontrolle und Bevormundung führt erwiesenermassen zu Untufriedenheit und schlechterer Leistung.
    Wie wäre es mit Vertrauen? Und Wertschätzung? Auch montär ist Wertschätzung angesagt!!!!!

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  3. Ich glaube auch, dass die Mitarbeiter nicht mehr gewertschätzt werden.
    Da kann ich ja auch bald bei Aldi arbeiten. Wenn die Mitarbeiter dort bald mehr vetdienen als wir, ist das eine wählbate Alternative.

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  4. Stimmt. Bald verdient man bei Aldi mehr und die Arbeit ist dort ist auch nicht mehr schlechter.

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  5. Schade, diese Entwicklung. Die GL sollte mit einem Fragebogen die verkaufenden Mitarbeiter fragen, was sie für Ideen, Gedanken und Vorschläge haben. Das bringt mehr als nur externe Berater zu fragen.

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    1. Niemand in Zentrale und GL interessiert sich für das, was wir im Laden denken oder zu sagen haben. Das solltest Du in den vergangenen Jahren doch gemerkt haben. Wir sind lästige Kostenfaktoren, die einfach zu blöde sind, die genialen Ideen aus der oberen Etage zu verstehen und umzusetzen. Dein Fragebogen würde am Ende noch zu Tage bringen, das gefühlt alle es ganz großen Mist finden, was seit einiger Zeit mit uns und unseren Buchhandlungen passiert. Wer liest so was schon gern!

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    2. Die Gl sollte ihre Verkaufsbuchhändler fragen, bevor es zu spät ist. Also, Herr Hugendubel, wenn Sie dies lesen, dann vergessen Sie diese Zeilen nicht.

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    3. Fragt das Buchreport-Interview mit M und N, dann wisst Ihr, dass es längst zu spät ist! Mit der Frequenz klappts nicht so und die Kunden sind nicht zufrieden? Die Mitarbeiter sind Schuld, da unmotiviert, unmotivierbar oder zu blöd. Die Zentrale ist niemals Schuld, auch das zentral zusammengewürfelte Sortiment nicht. Auf keinen Fall.
      Sehr lesenswert auch der kurze Abschnitt zu Arbeitszeitmodellen. Lest das Ihr Turnustagsanhänger und Spätzuschlagsliebhaber!

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  6. Liebe Nina, lieber Maxi,
    ich glaube, ihr verrennt Euch komplett. Es ist traurig, dies live mitzuerleben. Traut Euren Mitarbeitern mehr zu und kontrolliert nicht dauernd. Das hat noch niiieee funktioniert.
    Achtet die Mitarbeiter, zahlt ihnen mehr und bildet sie verkaufstechnisch wie fachlich. Oder wollt ihr ein zweites Weltbild werden?
    Ihr werdet ein zweites Weltbild werden, wenn Ihr so weitermacht. Und ihr Mitarbeiter: ihr wisst, dass Weltbild nur so circa den Mindestlohn zahlt, oder?

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