Donnerstag, 21. August 2014

Schlafwandelnd in den Weltkrieg?

Schwerpunkt Erster Weltkrieg:  Geschichte




"Lange Zeit galt es als ausgemacht, dass das deutsche Kaiserreich wegen seiner Großmachtträume die Hauptverantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkriegs trug. In seinem bahnbrechenden neuen Werk kommt der renommierte Historiker und Bestsellerautor Christopher Clark zu einer anderen Einschätzung."

Die Botschaft des Klappentextes, mit dem der DVA-Verlag das Werk seines Autors Clark anpreist, wird penetrant durch alle Medien transportiert und paraphrasiert ein zeitgenössisches Diktum des britischen Politikers Lloyd George: "The nations slithered over the brink into the boiling cauldron of war" -
die Nationen schlitterten über den Abgrund in den Hexenkessel des Krieges hinein...".

Doch war das tatsächlich so?


Clarks "Schlafwandler"-Buch, das mit anekdotischem Material vollgestopft ist, aber fast nie nach den Ursachen, Interessen und Profiteuren des Krieges fragt, ist in der gegenwärtigen politischen Öffentlichkeit sehr willkommen, weil es in seiner Relativierung der deutschen Hauptschuld am Ersten Weltkrieg ein Standardwerk angreift, das eben dies behauptet und damit einen Meilenstein der Historiographie gesetzt hat: Fritz Fischers "Griff nach der Weltmacht".



Griff nach der Weltmacht - Fischer, Fritz 


Fritz Fischers 1961 erschienene Studie Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918 schlug im damaligen Nachkriegsdeutschland wie eine Bombe ein, weil es die tradierte Verschleierung der deutschen Verantwortung durch Politik und Geschichtswissenschaft radikal angriff. Und es stimmt eben nicht, wie ständig kolportiert wird, daß Fischer Deutschland die Alleinschuld am Krieg zusprach:

„Bei der angespannten Weltlage des Jahres 1914, nicht zuletzt als Folge der deutschen Weltpolitik, musste jeder begrenzte (lokale) Krieg in Europa, an dem eine Großmacht beteiligt war, die Gefahr eines allgemeinen Krieges unvermeidbar nahe heranrücken. Da Deutschland den österreichisch-serbischen Krieg gewollt, gewünscht und gedeckt hat, und, im Vertrauen auf die deutsche militärische Überlegenheit, es im Jahre 1914 bewusst auf einen Konflikt mit Russland und Frankreich ankommen ließ, trägt die deutsche Reichsführung einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges."
(Griff nach der Weltmacht, S. 97).

Selbstverständlich kann auch keineswegs davon die Rede sein, daß Fischers These mittlerweile "überholt" sei, wie medial allerorten zu hören ist. Dankenswerterweise haben auch sozialliberale Historiker wie der kürzlich verstorbene Hans-Ulrich Wehler oder Volker Ullrich dies scharf zurückgewiesen.
Interessant bei Fischer sind die Analysen der imperialistischen Großmachtpläne des deutschen Kaiserreichs, die Jahrzehnte vor Kriegsbeginn ausgearbeitet wurden und die auf ein deutsch beherrschtes Mitteleuropa abzielten - übrigens einschließlich der Ukraine und einer möglichen Zerschlagung Rußlands.
Zitat eines führenden deutschen Militärs im Ersten Weltkrieg: "Kiew ist der Schlüssel zu Moskau!"

Clarks Buch mit seiner historischen Relativierung dieser imperialistischen Pläne kommt damit einer interessierten Öffentlichkeit und ihrer herrschenden Klasse mit ihren neuen politischen und militärischen Großmacht-Ambitionen entgegen, die sich nur zu gerne des Ballasts ihrer historischen Verantwortung entledigen möchten. 

Deutschland und der Erste Weltkrieg - Fesser, Gerd 


Gerd Fessers kompaktes Buch aus der empfehlenswerten "Basis"-Reihe des PapyRossa-Verlages informiert zuverlässig und kompakt über den neuesten Stand der Erkenntnisse zum Ersten Weltkrieg und ist ein gutes Antidot zum Clark-Hype.



Die Julikrise - Mombauer, Annika


Mit der sogeannten "Julikrise" sind die sich überschlagenden Ereignisse des Juli 1914 gemeint. Die Historikerin Annika Mombauer - die sich ebenfalls sehr kritisch zu den Thesen von Clark äußert - schildert kurz und knapp in der Beck´schen Wissen-Reihe die politisch-historischen Vorgänge.
Spannender wie jeder Roman zu lesen!



Juli 1914 - Krumeich, Gerd


Gerd Krumeich, der sich auf seinem Lehrstuhl an der Freiburger Universität jahrzehntelang mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigte und viele Publikationen dazu veröffentlichte, legt mit dem vorliegenden bei Schöningh aktuell erschienenen Werk nicht nur eine Bilanz, sondern auch eine exzellente Zusammenstellung der wichtigsten Original-Dokumente zum Kriegsausbruch vor. Wer Geschichte aus erster Hand nachvollziehen will:  tolle, lege!



Imperialismus - Deppe, Frank; Salomon, David; Solty, Ingar 


Zum Schluß noch die Empfehlung eines Buches, das sich mit einem Begriff beschäftigt, der bei Clark so gut wie nicht vorkommt, aber zentral für den Ersten Weltkrieg ist und auch in die unmittelbare Gegenwart führt:
Imperialismus.



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