Gewerkschaftsinstitute fordern Anhebung
Berlin, Juni 2020 – Einführung und Erhöhungen des
gesetzlichen Mindestlohns haben seit 2015 die Einkommenssituation von Millionen
Menschen in Deutschland verbessert, von denen nicht wenige in „systemrelevanten“,
aber niedrig bezahlten Berufen arbeiten. Der Mindestlohn hat dadurch die
private Konsumnachfrage spürbar unterstützt, die in den vergangenen Jahren
wesentlich zum Wirtschaftswachstum in Deutschland beigetragen hat.
Solche
positiven Impulse sind zur Bewältigung der aktuellen Corona-Krise besonders
wichtig. Deshalb ist eine schrittweise Anhebung des Mindestlohns auf ein Niveau
von 12 Euro ökonomisch und sozial weiterhin absolut vernünftig. Zu diesem
Ergebnis kommen Wissenschaftler des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen
Instituts (WSI) und des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung
(IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in einer neuen Stellungnahme
für die Mindestlohn-Kommission.
„Politik und Ökonomen sind sich einig, dass die
Nachfrage in Deutschland nach den Einschränkungen zur Corona-Bekämpfung
dringend angekurbelt werden muss“, sagt Thorsten Schulten, Tarifexperte des
WSI. „Dabei werden Unternehmen direkt oder indirekt mit vielen Milliarden Euro
unterstützt. Eine schrittweise Erhöhung des Mindestlohns wäre ein weiterer
wichtiger Baustein, ebenso wie die Stärkung der Tarifbindung in Deutschland.
Ein deutlich höherer Mindestlohn kommt Beschäftigten zu Gute, die sehr wenig
verdienen und zusätzliches Einkommen umgehend ausgeben werden. Forderungen nach
einer zurückhaltenden Anpassung oder gar Nullrunde beim Mindestlohn mit Hinweis
auf die Corona-Krise sind dagegen fehl am Platze.“ In der aktuellen Situation
sei besonders wichtig, die Erwartungen auf Einkommenssteigerungen der privaten
Haushalte zu stabilisieren, sagt Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor
des IMK. „Eine Anhebung des Mindestlohns kann hierzu einen wichtigen Beitrag
leisten, da von ihm eine Signalwirkung für die gesamte Lohnentwicklung
ausgeht.“
Ein Konzept für eine weitere schrittweise Anhebung
des Mindestlohns ist nach Analyse beider Wissenschaftler umso drängender, weil
sich bislang die mit dem Mindestlohn verbundenen Hoffnungen auf eine
nachhaltige Reduzierung des Niedriglohnsektors und die Etablierung
existenzsichernder Löhne kaum erfüllt haben. Wenn mit dem Mindestlohn auch das
Ziel erreicht werden solle, nach langjähriger Beschäftigung eine Rente oberhalb
der Grundsicherungsschwelle zu erreichen, hätte er bereits im vergangenen Jahr
bei mindestens 11,51 Euro liegen müssen. Das zeigen Berechnungen der Experten.
Deutschland weit unterm EU-Durchschnitt
Gemessen am
sogenannten mittleren Median-Lohn von Vollzeitbeschäftigten lag der deutsche
Mindestlohn nach den aktuellsten verfügbaren Daten mit 45,6 Prozent deutlich
niedriger als im EU-Durchschnitt (50,7 Prozent). Und anders als in vielen
anderen Ländern sank die Quote in den vergangenen Jahren. Ein Mindestlohn bei
60 Prozent des Medians und damit oberhalb der Schwelle, bei der nach
verbreiteter wissenschaftlicher Definition von „Armutslöhnen“ gesprochen wird,
müsste in Deutschland aktuell 12,21 Euro betragen. In Großbritannien soll diese
60-Prozent-Schwelle nach fünf aufeinanderfolgenden kräftigen Erhöhungsschritten
in diesem Jahr erreicht werden, berichten die Forscher von WSI und IMK. 60
Prozent des Medians sind auch die Zielmarke, die derzeit in der Europäischen
Union im Hinblick auf eine mögliche europäische Mindestlohninitiative
diskutiert werden.
Würde der
deutsche Mindestlohn analog auf 12 Euro angehoben, könnten davon
schätzungsweise rund 10 Millionen Beschäftigte profitieren und damit mehr als
doppelt so viele wie bei der Einführung 2015. Nach Simulationsrechnungen
mit dem IMK-Konjunkturmodell hätte die Anhebung positive gesamtwirtschaftliche
Auswirkungen. So fiele langfristig der private Konsum preisbereinigt um 1,4 bis
2,2 Prozent höher aus als ohne Erhöhung. Die Wirtschaftsleistung läge um 0,5
bis 1,3 Prozent höher. Empirische Erfahrungen mit vergleichbar hohen
Mindestlohnzuwächsen sind bislang zwar beschränkt, aber in der Tendenz positiv,
zeigen die Forscher. Vorliegende Studien aus den USA hätten „gezeigt, dass eine
Erhöhung des Mindestlohns auf 60 bis 66 Prozent des Medianlohns ohne negative
Auswirkungen auf die Beschäftigung möglich ist“, schreiben die Wissenschaftler.
„Allerdings sind in den meisten Fällen größere Mindestlohnerhöhungen nicht in
einem, sondern in mehreren Schritten durchgeführt worden.“
Quelle: ver.di
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