Montag, 21. September 2015

Ein Schiff namens Esperanza

Flucht und Flüchtlinge in der Literatur


Die Leiche eines toten Kindes, angespült an des Strand des türkischen Bodrum.
71 syrische Flüchtlinge, erstickt im Frachtraum eines LKW im österreichischen Burgenland.
Über 400 Menschen auf der Flucht aus Afrika, ertrunken im Mittelmeer vor der Insel Lampedusa.
Tausende von Toten, deren Namen oder Schicksal kein Mensch je erfahren wird. Weltweit befinden sich derzeit rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg und Not. Seit 2013 steigt die Zahl der Flüchtlinge auch in Deutschland stark an. 
Auch in der Literatur haben sich diese Bilder von flüchtenden Menschen eingebrannt und ihre Spuren hinterlassen. Wir haben deswegen eine literarisch versierte Kollegin gebeten, für unsere Leserinnen und Leser einige Buchempfehlungen zusammenzustellen. Herausgekommen ist ein breites Spektrum: zwei belletristische Neuerscheinungen, ein vergessener moderner Klassiker, eine Graphic Novel und ein politisches Sachbuch zum besseren Verstehen der Hintergründe.



Vermutlich das "Buch der Stunde" - so die ZDF-Aspekte-Literaturredaktion - und zurecht vor einigen Tagen auf die Shortlist des Börsenvereins des deutschen Buchhandels gekommen: Jenny Erpenbecks Roman "Gehen, ging, gegangen".


Wer erinnert sich noch an die Protestcamps, die einige Dutzend Flüchtlinge in Hamburg ("Lampedusa in Hamburg"), in München am Rindermarkt oder in Berlin am Oranienplatz gemacht haben? An vielen ging es wohl so vorbei wie an Richard, der Hauptfigur in Jenny Erpenbecks Roman, der tagsüber am Oranienplatz vorbeigeht ohne etwas zu bemerken. Erst abends dann in den Fernsehnachrichten wird dem emeritierten Altphilologen halbwegs klar, was da vor sich geht und er beschließt, sich die Sache anzusehen bzw. sich der Menschen dort anzunehmen.

Jenny Erpenbeck Roman ist aber kein aktualitätsheischender Schnellschuss. Sie beschäftigt sich schon seit Jahren mit dem Flüchtlingsthema, hat mit vielen Menschen gesprochen und interessiert sich auch für die Hintergründe. Dennoch ist kein Sachbuch daraus geworden, sondern ein mit Wirklichkeit gesättigter fiktionaler Text, der vielleicht gerade deswegen manche Zusammenhänge sehr präzise beschreibt. Unbedingt lesenswert!




Andreas Schneiders Roman "Gesichter" erschien schon vor zwei Jahren, als man es vielleicht mit einigen hunderten oder tausenden Flüchtlingen zu tun hatte. Um so hellsichtiger ist sein Buch, der am Beispiel eines einzelnen Protagonisten und seiner  Familie aufzeigt, welche grundlegenden Veränderungen es für unser aller Leben konkret bedeuten könnte:

"Familienurlaub auf einer griechischen Insel. Auf der Rückreise wird der Neurologe Gabor Lorenz am Hafen von Patras Zeuge, wie ein junger Mann auf einen Lastwagen springt, um unbemerkt auf die Fähre zu gelangen, mit der auch Lorenz und seine Familie nach Italien übersetzen. Das Bild lässt Lorenz nicht mehr los. Während der Überfahrt sucht er den Mann und wirft eine Tüte mit Lebensmitteln in den Laster, in dem der Fremde sich versteckt. Zu spät fällt ihm ein, dass sich darin auch Postkarten mit seiner Berliner Anschrift befinden. Es dauert eine Woche, bis die erste dieser Karten bei Familie Lorenz ankommt, abgestempelt in Modena. Kurze Zeit später die zweite – mit Münchner Poststempel. Da weiß Lorenz, dass der Flüchtling näher kommt, dass er auf dem Weg ist zu ihm..."





Fred von Hoerschelmann ist ein heute weitgehend vergessener Autor. Sein 1953 geschriebenes Hörspiel ist dabei aber von einer geradezu beklemmenden Aktualität. Denn im Mittelpunkt seines Textes stehen ein Kapitän, der mit seinem Schiff "Esperanza" für viel Geld Flüchtlinge illegal transportiert und sein Sohn Axel, der bald hinter das Geheimnis seines Vaters kommt.
Damit ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende...





Während die Flüchtlingsrouten über den Balkan oder über das Mittelmeer nach Italien täglich präsent sind, ist ein anderer Weg der Flüchtlinge nach Europa darüber fast in Vergessenheit geraten, nämlich der über die Straße von Gibraltar von Marokko nach Spanien. Das ist der Ausgangspunkt der Graphic Novel "Unsichtbare Hände" des finnischen Autors und Zeichners Ville Tietäväinen. Fünf Jahre lang recherchierte er für sein Werk und sprach mit Flüchtlingen, Schwarzarbeitern, Grenzbeamten und Menschenhändlern.

Sein Protagonist Rashid, ein Schneidergehilfe aus Tangers Armenviertel, macht sich auf den Weg der "Harraga", der illegalen Einreise in die Europäische Union. Für die Rückzahlung der 2500 Euro, die der Schlepper von ihm verlangt, wird er als moderner Sklave jahrelang auf den Treibhausplantagen in im spanischen Andalusien arbeiten müssen. Bleibt zu hoffen, daß die Graphic Novel von Tietäväinen eine ähnlich starke Kontroverse auslöst, wie sie dies in Finnland getan hat. Von jedem verkauften Exemplar fließen übrigens 2 Euro an Pro Asyl.






Daß der Zweite Golfkrieg von 1990 bis 1991 vom Westen mit der Lüge von den irakischen Massenvernichtungswaffen geführt wurde, wissen die meisten mittlerweile. Aber wer kann sich noch an den Ersten Golfkrieg von 1980 bis 1988 erinnern, als der Westen eben jenen Hussein mit Waffen und Propaganda bei seinem Überfall auf den Iran unterstützte, weil Khomeini damals der Bösewicht gewesen ist? Wohl kaum noch jemand. Wer weiß, daß in den letzten Jahren der sogenannte Islamische Staat von Saudi-Arabien und Katar massiv unterstützt wurde (und noch wird), die beide vom deutschen Außenminister Steinmeier als "Stabilitätsanker" im Nahen Osten bezeichnet wurden?
Wer weiß, daß die USA zum Sturz des syrischen Assad-Regimes mit der salafistischen Gruppe Ahrar al-Scham zusammenarbeitet, die über enge Verbindungen zu Al-Quaida verfügt?
Die Berichterstatung in den Medien ist oberflächlich. Das Buch "Flächenbrand" der Journalistin Karin Leukefeld, die seit Jahrzehnten in Damaskus lebt, kann hier für Aufklärung sorgen.









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