Montag, 9. August 2021

Zombie-Kapitalismus

 Konturen einer neuen Entwicklungsphase des Kapitalismus

 

 

 

Im Juni 2016 veröffentlichte der IWF in seiner Zeitschrift Finance & Development einen mit »Neoliberalism: Oversold« (Neoliberalismus: Überverkauft) überschriebenen Artikel. In ihm übt die Forschungsabteilung der als Exekutionsorgan des Neoliberalismus berüchtigten Organisation vorsichtige Kritik an einigen auch vom IWF jahrzehntelang vertretenen Dogmen, insbesondere an dem des freien Kapitalverkehrs und des Festhaltens am Prinzip des Budgetausgleichs (»­austerity«). Bemerkenswert war zunächst der Begriff »Neoliberalismus« im Titel, von dessen Anhängern bislang als linkes Schimpfwort gemieden. 

Seit den 1980er Jahren, so die Autoren, seien die meisten Regierungen einer »neoliberalen Agenda« gefolgt, die auf zwei »Hauptpfeilern« beruhe: 1. dem durch Deregulierung und Öffnung der Binnenmärkte (inklusive Finanzmärkte) bewirkten verschärften Wettbewerb und 2. der durch Privatisierung und Abbau öffentlicher Schulden verringerten Rolle des Staates. Tatsächlich wurden nicht nur diese Ziele nicht erreicht (die Plattformökonomie hat privaten Monopolen bislang unbekannte Macht verschafft, die öffentlichen Schulden haben zugenommen, der Staatsanteil am BIP ist nicht zurückgegangen); 

die theoretischen Tragpfeiler der neoliberalen Politik haben sich als obsolet erwiesen. Dies gilt erstens, wie oben gezeigt, für die Effizienzmarkthypothese, die sich spätestens in der Finanzmarktkrise 2008 endgültig blamiert hat, und zweitens für den Monetarismus, demzufolge Wirtschaftspolitik sich darauf beschränken sollte, mittels Zentralbankzinsen die Geldmenge und damit auch die Konjunktur zu steuern. Bei einem Zentralbankzins von null kann nichts mehr gesteuert werden. Die Notwendigkeit, die Wirtschaft innerhalb von zwölf Jahren zweimal durch erhebliche Staatsinterventionen retten zu müssen, und die Tatsache, dass in der Zwischenzeit weitere Krisen nur durch eine extrem expansive Geldpolitik verhindert werden konnten, sollte eigentlich ausreichen, um die »neoliberale Agenda« als erledigt zu betrachten.

Praxisuntauglich

Davon kann bislang keine Rede sein. Die »Großen Krisen« von 1929/32 und 1973/75 waren verbunden mit einem Wechsel im herrschenden ökonomischen Paradigma. Dabei war es nicht so, dass die wirtschaftspolitische Praxis neuen theoretischen Erkenntnissen folgte: Das epochemachende Werk von John Maynard Keynes ist erst 1936 erschienen; umgekehrt hatte sich der Neoliberalismus akademisch schon lange vor 1973/75 etabliert. Die Vorstellung, wissenschaftliche Erkenntnisse würden die wirtschaftspolitische Praxis leiten, ist naiv. 

Dies muss berücksichtigt werden, wenn man sich über die Hartnäckigkeit wundert, mit der sich praxisuntaugliche neoliberale Vorstellungen im öffentlichen Bewusstsein und in großen Teilen der medialen Öffentlichkeit halten. Besonders eindringlich illustriert wurde diese ideologische Blindheit im Februar 2021 von der Debatte um die (gescheiterte) Verlängerung des Vertrags von Lars Feld als Chef des »Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung«: Dass dieser Ordoliberale der alten Schule nach zehn Amtsjahren (endlich) abtreten musste, wurde in den Medien als Abschied von der »ökonomischen Vernunft« beklagt.

Während in der Öffentlichkeit immer noch der Anschein erweckt wird, als sei die Theorie von den allwissenden Märkten und dem »schlanken« Staat höchster Ausdruck ökonomischer Vernunft, ist die wirtschaftspolitische Praxis über viele als unantastbar geltende Dogmen hinweggegangen. Dies zeigt ein Blick auf drei Politikfelder:

Industriepolitik: Der »neoliberalen Agenda« würde es entsprechen, den Strukturwandel zu klimafreundlichen Produktionsformen sowie zur »digitalen Ökonomie« dem Markt zu überlassen. Tatsächlich wird aber schon seit zwei Legislaturperioden gezielte Industriepolitik betrieben, um politisch definierte »Schlüsselsektoren« zu fördern. 

Die »Industriestrategie 4.0« als gemeinsame Initiative von Unternehmen, Verbänden und Politik ist ein »Zukunftsprojekt der Bundesregierung«, in dessen Rahmen »konkrete Innovationsstrategien und Implementierungsabläufe geplant (werden), die Deutschland eine Führungsposition bei der Lösung globaler Herausforderungen einräumen sollen.«¹ 2019 legte das Bundeswirtschaftsministerium eine »Industriestrategie 2030« vor, in der umfassende staatliche Maßnahmen für als besonders zukunftsträchtig erachtete Wirtschaftszweige vorgeschlagen werden, einschließlich der Lockerung der Wettbewerbsgesetze.

Haushaltspolitik: Eine gemeinsame Initiative von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften schlug im November 2019 ein großes öffentliches Investitionsprogramm vor und plädierte für die Aufgabe von »schwarzer Null« und Schuldenbremse. An deren Stelle soll eine »goldene Investitionsregel« treten, derzufolge öffentliche Investitionen über Kredite zu finanzieren sind und nicht aus dem laufenden Haushalt. Die neoliberale Behauptung, öffentliche Investitionen würden private Investitionen verdrängen (»Crowding-out«) wurde aufgegeben, »öffentliche Investitionen (seien) als komplementäre Faktoren zu privaten Investitionen von hoher Relevanz«, heißt es in der Studie, die der Initiative zugrunde lag. Achim Truger, ein (eher kritischer) »Wirtschaftsweiser«, plädiert ebenfalls für die »Rückbesinnung auf die goldene Regel der öffentlichen Investitionen«, eine, wie er erinnert, »in der traditionellen finanzwissenschaftlichen Literatur weithin akzeptierte Verschuldungsregel«.²

 

Davos II: They Live | ActionTimeVision

 

Der Investitionsbegriff umfasst nicht nur Anlageinvestitionen wie in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, sondern auch Aufwendungen für Bildung und Forschung. Damit wäre das ­Dogma des Budgetausgleichs als ein Kern­element der »neoliberalen Agenda« aufgegeben. Auf der Ebene der EU gerät die bislang als sakrosankt geltende Maastricht-Regel (»Stabilitätspakt«) in die Kritik: In einem »Gastbeitrag« in der Zeit (22.2.2021) forderte eine Autorengruppe unter Führung von Olivier Blanchard: »Schafft die Schuldenregeln ab.« EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni schlägt vor, bei der Berechnung des Schuldenstandes bestimmte Investitionen nicht anzurechnen: »Bei der Überarbeitung der Regeln des Stabilitätspakts sollten wir Wege finden, um öffentliche Investitionen zu stützen, die mit den EU-Prioritäten, also Grünes und Digitales, verbunden sind. (…) Wenn wir uns darauf einigen, dann wird das den Schuldenstand verändern.« (Wirtschaftswoche, 18.11.2020)

Das neoliberale Credo, eine Konsolidierung der Schulden würde das Vertrauen der Investoren stärken und diese zu mehr Investitionen bewegen, entbehrt jeder empirischen Grundlage. »Episoden fiskalischer Konsolidierung«, so der IWF, »folgte im Durchschnitt ein Fall und kein Anstieg der Produktion«.³ Eine Rückkehr zur Politik des Budgetausgleichs nach der Coronakrise ist vor diesem Hintergrund unwahrscheinlich.

Kapitalverkehr: Die Aufhebung von Beschränkungen des internationalen Kapitalverkehrs gehörte den IWF-Autoren zufolge zu den Kernelementen der »neoliberalen Agenda«. Die theoretischen Vorteile der »finanziellen Offenheit« hätten sich in der Realität aber als ungewiss herausgestellt. Dagegen seien »die Unkosten in Form einer gesteigerten ökonomischen Volatilität und Krisenanfälligkeit offensichtlicher«.

Der freie Kapitalverkehr hat zu einer Vielzahl von Finanzkrisen geführt. Seit 1980 wurden 150 Episoden steigender Kapitalzuflüsse in Schwellenländer gezählt, was in einem Fünftel der Fälle zu Finanzkrisen geführt habe. Die Öffnung der Kapitalmärkte hat sich als wichtiger Risikofaktor erwiesen. Heute gehören staatliche Kapitalverkehrskontrollen wieder zu den auch vom IWF empfohlenen Maßnahmen. Obwohl auch schon vor der Coronakrise Eingriffe in den freien Kapitalverkehr zugenommen hatten, hat die Coronakrise diese Tendenz verstärkt. Vor allem Schwellen- und Entwicklungsländer haben zu diesem Mittel gegriffen, um den Abfluss von Auslandskapital zu stoppen. Westliche Investoren klagen über die Zunahme von »Trapped Cash«, d. h. Auslandsgelder, die nicht mehr nach Belieben bewegt werden können.

Private Joker on Twitter: "I am a big fan of John Carpenter but I have  never watched 'They Live' until now. I enjoyed it but it is not my  favourite of his.

Der Staat als Demiurg

Weder die Dekarbonisierung der Wirtschaft noch deren beschleunigte Digitalisierung, beides Bedingungen für eine Stabilisierung des Akkumulationsprozesses, sind ohne umfassende staatliche Interventionen erreichbar. Hinzu kommt das Problem der volatilen Finanzmärkte, die die Geldpolitik in Geiselhaft genommen haben. Der internationale Finanzstabilitätsrat (FSB) plant nach den Erfahrungen der Coronakrise neue Regeln für die neuen »Finanzintermediäre«. »Das Finanzsystem bleibe verletzlich, weil die Strukturen und Mechanismen, die die Turbulenzen verstärkt hätten, weiter existierten«, schrieb der FSB an die Vertreter der G20-Staaten (Handelsblatt, 17.11.2020). Selbst marginale Ereignisse wie die Spekulationsattacke auf die Gamestop-Aktie ließen die Alarmglocken schrillen: Die Instabilität der Finanzmärkte stellt eine permanente Bedrohung der Weltwirtschaft dar. Die Finanzmärkte sind »too big to fail«: Bei jeder sich andeutenden Schwierigkeit – Anfang 2021 z. B. verunsicherte ein leichter Anstieg der Renditen in den USA die Finanzwelt – reagiert die Geldpolitik mit neuen expansiven Schritten. Eine Definanzialisierung würde eine wirksame Regulierung – bis hin zum Verbot bestimmter Finanzinstrumente – erfordern, aber auch eine Begrenzung »der Größe institutioneller Investoren und Banken«.⁴ Die Schaffung »grüner Finanzmärkte«, wie von den Grünen in ihrem Wahlprogramm 2021 gefordert, würde deren Labilität nicht verringern.

Ein weiterer drastische Staatsinterventionen erfordernder Aspekt ist die Ungleichheit bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen, da die Vermögenskonzentration einer der Gründe für die Labilität der Finanzmärkte ist. Das wurde in der Coronapandemie bestätigt, die die Finanzspekulation weiter angetrieben hat. »Der offensichtliche ökonomische Schaden der Ungleichverteilung erfordert größere Offenheit der Politik gegenüber Maßnahmen der Umverteilung«, formulierte der IWF. Damit sind steuerliche Maßnahmen gemeint. Nachhaltige Fortschritte auf diesem Gebiet wären aber erst dann in Sicht, wenn sich die Kräfteverhältnisse verschöben, wenn es den Gewerkschaften gelänge, die Lohnquote zu erhöhen.

 

Keynes’ Auferstehung?

All dies mag sich nach einer »Wiedergeburt des Keynesianismus« anhören, wie z. B. Gustav Horn, ehemals Direktor des IMK, meint. Dies ist unwahrscheinlich, auch wenn die Situation 2021 anders ist als kurz nach der Finanzmarktkrise 2008, als staatliche Konjunkturprogramme für kurze Zeit ähnliche Hoffnungen geschürt hatten. Der Wirtschaftswissenschaftler Jörg Huffschmid hatte damals, 2009, die Frage »Nach der Krise: Das Ende des Finanzmarktkapitalismus?« negativ beantwortet und damit Recht behalten. Er nannte drei Gründe, die zum Teil noch zutreffen, aber doch zeigen, dass die Situation 2021 nicht mit der von 2008 vergleichbar ist:

– Der Druck der letzten Endes nicht geschwächten Finanzakteure, die durch die Kosten von Bankenrettung und Konjunkturprogrammen angeschwollenen öffentlichen Defizite nach der Krise wieder abzubauen, werde stärker werden. Dies werde den Spardruck vergrößern und Programmen zur weiteren Privatisierung und zum Abbau öffentlicher Dienstleistungen neue Dynamik verschaffen, hatte Huffschmid argumentiert. Solche Töne fehlen zwar auch heute nicht, sie scheinen aber nur noch wenig Durchschlagskraft zu haben, wie die wachsende Kritik am Prinzip des Budgetausgleichs deutlich macht. Zu groß ist der staatliche Handlungsbedarf, zu klar ist, dass der Rückstand bei öffentlichen Infrastrukturen die internationale Konkurrenzfähigkeit schwächt.

Zudem haben die Folgen der Coronakrise Forderungen zur weiteren Schwächung der öffentlichen Daseinsvorsorge unpopulär gemacht. Es ist unwahrscheinlich, dass es nach der Krise zu neuen Sparrunden kommt. Veränderungen auf internationaler Ebene sprechen ebenfalls gegen eine baldige Rückkehr der »Austerität«: Die USA haben 2020/21 Programme in Höhe von zusammen fast 35 Prozent des BIP aufgelegt bzw. angekündigt. Der unter Biden verabschiedete »American Rescue Plan« von 1,9 Billionen US-Dollar, fast zehn Prozent des BIP, enthält Elemente, die auf einen Ausbau des in den USA allerdings bescheidenen Sozialstaats hinauslaufen. Reminiszenzen an Roosevelts »New Deal« sind weit übertrieben, trotzdem wird – angetrieben vom linken Flügel der Demokraten – darüber wieder diskutiert.

– Die Basistendenzen, die zur Herausbildung des Finanzmarktkapitalismus geführt haben, nämlich die Konzentration von Einkommen und Vermögen, so Huffschmid im Frühjahr 2009, seien weiter intakt. Dies trifft auch heute noch zu, und zwar in verschärfter Form: Die Coronakrise hat einerseits zu gewaltigen Spekulationsgewinnen der Finanzmarktakteure geführt und die Arbeitseinkommen unter Druck gesetzt. Andererseits ist aber die Kritik an der ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung gewachsen. Die Finanzmarktkrise von 2008 erfolgte, wie oben gezeigt, nach einer Periode, in der rückläufige Arbeitslosenzahlen und fast krisenfreies Wachstum in den entwickelten Ländern die Illusion erzeugt hatten, die »neoliberale Agenda« funktioniere. Die Finanzmarktkrise galt als isoliertes Ereignis, das durch eine bessere Regulierung der Banken für alle Zukunft ausgeschlossen werden könnte. Die Kritik an verzerrten Verteilungsverhältnissen ist heute politisch wirksamer, der Zusammenhang zwischen Vermögenskonzentration und Finanzialisierung offensichtlich, die Angst vor neuen Finanzkrisen bestimmt die Wirtschaftspolitik.

– Der dritte von Huffschmid genannte – entscheidende – Grund scheint dagegen auch heute noch zuzutreffen: »Die großen politischen Institutionen und Parteien stehen fest auf dem Boden des Kapitalismus (…) und sind nicht bereit, grundsätzlich neue Wege der politischen Steuerung zu gehen. Keynesianistische Konjunkturprogramme werden als Notstandsmaßnahme akzeptiert, sie signalisieren aber nicht eine Wende zu einem neuen interventionistischen Steuerungsmodell.« Huffschmid bezieht sich damit auf die politischen und sozialen Kräfteverhältnisse, die heute wie damals keine Anzeichen für eine Schwächung der Eigentumskräfte zeigen. Zwar gibt es in Teilen der Sozialdemokratie Anzeichen für eine Rückwendung zu reformistischen Positionen, dafür haben sich aber bei den Grünen jene Kräfte durchgesetzt, die entschiedene Maßnahmen der Umverteilung zu Lasten der besitzenden Klassen ablehnen.

Es ist sicher zu früh, um die Frage nach einem grundlegenden Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik und in der Wirtschaftstheorie abschließend zu beantworten. Wenig wahrscheinlich ist, dass die wirtschaftspolitische Praxis nach 2021 einfach zur »neoliberalen Agenda« zurückkehrt. An die Stelle des »schlanken Staates« (der in Wirklichkeit so schlank nicht war) wird ein nach außen wie nach innen »starker Staat« treten, was für die subalternen Klassen kein Grund zum Jubeln ist. Die von einigen als Paradigmenwechsel gefeierten »Bidenomics« in den USA sehen zwar auch Unterstützungsleistungen für benachteiligte Gruppen und höhere Steuern für Superreiche vor, im Mittelpunkt steht aber (mit Blick auf China) die Stärkung der Innovationskraft und des Exportsektors durch gezielte staatliche Industriepolitik und – kaum erwähnt – die Modernisierung des Rüstungssektors. Wahrscheinlich »wird künftig ein Staatsinterventionismus an Profil gewinnen, wie er ansatzweise bereits vor der Pandemie zu beobachten war. Gleich, ob es um die Reorganisation von Wertschöpfungsketten, (…) die (…) Infrastruktur für E-Mobilität, um die Digitalisierung oder die Vorsorge vor neuen Gesundheitsrisiken geht – der Staat wird mitmischen, andernfalls drohen Niederlagen in der imperialen Rivalität. Staatsinterventionismus allein ist aber kein Garant für Fortschritt und in Sachen sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit«, beurteilt Klaus Dörre mögliche Folgen der Coronapandemie.⁵

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Zombieideologie

Obwohl für die wirtschaftspolitische Praxis kaum noch relevant, sprechen fünf Gründe für das Überleben des Neoliberalismus als politische Ideologie:

1. Die Kräfte, die den Neoliberalismus durchgesetzt haben, sind weiterhin einflussreich. Die Niederlage des Keynesianismus, so erklärte der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch nach 2008 »das befremdliche Überleben des Neoliberalismus«, sei eine Folge der Schwächung der »Arbeiterschaft der westlichen Industrieländer« gewesen, die von der keynesianischen Politik profitiert hat.⁶ 

Hinzuzufügen wäre, dass lange Zeit auch große Teile des Kapitals profitiert haben. Erst als das nicht mehr der Fall war, sind diese in den 1970er Jahren zum Neoliberalismus übergelaufen, der ja schon lange vorher einflussreich, aber nicht dominant, gewesen war. Entscheidend ist der Bezug zu den politisch-sozialen Kräfteverhältnissen, für deren positive Veränderung es derzeit nur wenig Anzeichen gibt.

2. Die neoliberale Verachtung des Staates, die Kritik am »Wohlfahrtsstaat«, die Warnung vor Lohnerhöhungen und zu hohen öffentlichen Ausgaben sind ein mächtiges ideologisches Bollwerk, hinter dem das Gesamtkapital sich verschanzen und seine Profitinteressen als Gemeinschaftsinteressen ausgeben kann. Die ideologische Substanz des Neoliberalismus ist eine wirksame Waffe im Verteilungskampf.

3. Der Neoliberalismus mit seiner Fixierung auf angeblich unparteiische Marktkräfte hat nichtökonomische Kriterien aus Debatten über Wirtschaft und Gesellschaft verbannt: Der Markt ist zur moralischen Instanz geworden, seine Ergebnisse sind zu akzeptieren, nicht weil sie gut, sondern weil sie »marktkonform« sind. Merkel hatte das mit ihrer Rede von der »marktkonformen Demokratie« 2011 im Kontext der europäischen Schuldenkrise spontan zutreffend formuliert. Der Markt kann aber nur über das urteilen, was in Geld quantifizierbar ist. »Die soziale Verantwortung der Wirtschaft ist es, ihre Profite zu vergrößern«, hatte der US-amerikanische Ökonom Milton Friedman das neoliberale Credo definiert.⁷ 

Die ökonomische Rentabilität ist zur moralischen Instanz geworden, was sich u. a. in der ökologischen Debatte niederschlägt und dazu beigetragen hat, die »grünen« Parteien zu Eigentumsparteien zu machen: Die »Rentabilität der Ökologie« ist zum Hauptargument des Umweltschutzes geworden. »Der Renditevorsprung grüner Aktienfonds gegenüber klassischen Produkten wird immer größer«, erklärt das Handelsblatt (3.2.2020) den Boom von »nachhaltigen« Finanzprodukten. Und die Grünen wollen ausweislich ihres aktuellen Wahlprogramms »dem Markt einen sozial-ökologischen Rahmen (geben)«.

4. Die Vergötzung des Marktes verweist den Gedanken der Solidarität in den Bereich der Wohltätigkeit. Auf dem Markt agieren isolierte Individuen, deren Gesellschaftlichkeit nur im Tausch erscheint. »There is no such thing as society«, erklärte Margaret Thatcher 1987 und meinte, jeder müsse zunächst nach sich selbst und erst dann nach den Nachbarn schauen. Die Konkurrenz der Kapitalien begründet die Konkurrenz der Arbeiter unter sich, bemerkt Marx in den »Grundrissen« (MEW 42, 550), diese wird erst im Klassenkampf bewusst aufgehoben. Warum sollte das Kapital freiwillig auf eine Ideologie verzichten, die die Konkurrenz zum allgemeinen gesellschaftlichen Prinzip verklärt? Hören wir Friedrich Engels’ Lob der Assoziationen: »Ist die Konkurrenz der Arbeiter unter sich gestört, sind alle Arbeiter entschlossen, sich nicht mehr durch die Bourgeoisie ausbeuten zu lassen, so ist das Reich des Besitzes am Ende« (MEW 2, 436). Der Glaube an den Markt ist der beste Schutzwall des Privateigentums.

5. Schließlich wird das neoliberale Paradigma überleben, weil es kein anderes gibt. Es ist daran zu erinnern, dass der Neoliberalismus schon viele Jahrzehnte eine Rolle spielte, bevor er sich in den 1970er und 1980er Jahren zur »Pensée unique«, zum Einheitsgedanken, aufschwang und Margaret Thatchers »There is no alternative« später von Angela Merkel mit dem »Unwort des Jahres 2010« »alternativlos« eingedeutscht wurde.

Sicherlich ist der Keynesianismus als ferne akademische Erinnerung noch virulent, die Renaissance des Staatsinterventionismus aber hat wenig mit der von einigen beschworenen »Wiedergeburt des Keynesianismus« zu tun. Nur weil die Politik den Staat als wirtschaftlichen Akteur angeblich wiederentdeckt hat (in Wirklichkeit war er nie vergessen), bricht kein »neues keynesianisches Zeitalter« an. 

Die in den letzten Jahren diskutierte »Modern Monetary Theorie« (MMT) hat wegen ihrer Beschränktheit auf die Geldtheorie nicht das Potential, ein ökonomisches Paradigma zu werden, das Antworten auf die Herausforderungen einer neuen kapitalistischen Entwicklungsphase geben könnte. Die Auffassung, öffentliche Finanzierungen seien ein technisches, kein Problem der »gesellschaftlichen Machtverhältnisse« geht an der wirtschaftspolitischen Kernfrage vorbei: »dass ein sozial-ökologisches Transformationsprojekt (…) gegen die herrschenden Macht- und Interessenverhältnisse durchgesetzt werden muss«.⁸

 

 

Anmerkungen

1 Bundesministerium für Bildung und Forschung, Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0, Abschlussbericht, S. 140

2 Achim truger: Schuldenbremse oder: Die Abkehr von einem Dogma. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/21, S. 8

3 Jonathan D. Ostry/Prakash Loungani/Davide Furceri: Neoliberalism: Oversold? In: Finance & Development, June 2016, Vol. 53, No. 2

4 Michael Schwan: Ein stabiles Fundament? Machen ungleich verteilte Einkommen und Vermögen das Finanzsystem instabil und krisenanfällig? Berlin 2020, S. 35

5 Klaus Dörre: Die Corona-Pandemie – eine Katastrophe mit Sprengkraft. In: Berliner Journal für Soziologie, November 2020, S. 18

6 Colin Crouch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Frankfurt am Main 2011, S. 19

7 The New York Times Magazine, 13.9.1970

8 Ingo Stützle: Money makes the word go green? Eine Kritik der ­Modern Monetary Theory als geldtheoretisches Konzept. In: ­Prokla, März 2021, S. 71–94, hier: S. 93

 

 

Quelle:  

Jörg Goldberg: Ein neuer Kapitalismus. Grundlagen historischer Kapitalismusanalyse, Papyrossa, Köln 2021, 199 Seiten, 14,90 Euro

 

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