Mittwoch, 5. April 2023

Von der Volksgemeinschaft zur Dienstgemeinschaft

 Wurzeln kirchlichen Arbeitsrechts


Im Arbeitsrecht sowohl der katholischen wie der evangelischen Kirche spielt der Begriff der "Dienstgemeinschaft" eine zentrale Rolle. Nun gibt es innerhalb der evangelischen Kirche eine Initiative namens "Verhängnisvolle Dienstgemeinschaft", die es sich zum Ziel gesetzt hat, diesen Begriff aus dem kirchlichen Arbeitsrecht zu entfernen.

Warum?

Die Autoren der Initiative begründen ihre Forderung im ersten Abschnitt ihres Textes damit, dass das Wort "Dienstgemeinschaft" dem Arbeitsrecht des NS-Staats entstammt. Ein wichtiger Beleg ist das "Gesetz zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Betrieben und Verwaltungen" vom 23. März 1934. Infolge des Gesetzes wurden die aus der Weimarer Republik stammenden Tarifverträge abgelöst und durch staatlich erlassene Entgeltordnungen ersetzt. 

Im öffentlichen Dienst sollte – so lautete im Anschluss z.B. der Wortlaut im Jahr 1938 – "eine Dienstgemeinschaft im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung" herrschen, die sich auf das "Verhalten" der Beschäftigten "in und außer dem Dienst" auszuwirken habe.

 Die Kirchen und die christlichen Wohlfahrtsverbände, d.h. die "Innere Mission" (evang.) und die "Caritas" (kathol.), haben den NS-Begriff der Dienstgemeinschaft damals zügig übernommen. Gegen die damit verbundene Entmachtung der Gewerkschaften hatten sie keinerlei Vorbehalte; im Gegenteil.

Im zweiten Teil ihrer Eingabe schildern die vier Autoren Entwicklungen nach 1945. Die Kirchen blieben bei der 1933 eingeschlagenen Linie, Gewerkschaften auszugrenzen. Zu diesem Zweck bauten sie ein eigenes kirchliches Arbeitsrecht auf, also eine Nebenrechtsordnung, die es vor 1933 in der Weimarer Republik nicht gegeben hatte. 

Dabei griffen sie auf den Begriff der Dienstgemeinschaft aus der NS-Zeit zurück. Wegweisend wurden u.a. Schriften des Juristen Werner Kalisch. Nachdem er das Wort vor 1945 im NS-Sinn verwendet hatte, schlug er als Kirchenrechtler 1952 vor, Dienstgemeinschaft nunmehr als "Dienst in der Gefolgschaft Christi als des Herrn und Hauptes der Kirche" zu definieren. 

Im Licht dieser Definition sei auch das 1949 beschlossene Bonner Grundgesetz zu interpretieren, das den Kirchen bzw. den Religionsgesellschaften ein Selbstverwaltungsrecht zugebilligt hatte (Art. 140 GG in Verbdg. mit Art. 137 Abs. 3 WRV). Mit der christlichen Dienstgemeinschaft sei – so Kalisch – die Betätigung von Gewerkschaften und der Abschluss von Tarifverträgen im kirchlichen Bereich nicht vereinbar. Diese Position machten sich die Amtskirchen zu eigen und setzten sie in den 1950er Jahren gegenüber dem westdeutschen Nachkriegsstaat durch.

 

Im dritten Abschnitt ihres Textes referieren die vier Autoren, wie der Begriff der Dienstgemeinschaft in den folgenden Jahrzehnten kirchlich immer breiteren Raum einnahm und kritische Stimmen abgewiesen wurden. Ihnen zufolge ist er zum "Abwehr-, Kampf- und Beschwichtigungsbegriff nach außen und nach innen" geworden. Er diente bzw. dient der Ausgrenzung der Gewerkschaften, "um das gesamte Arbeitsrecht als kirchliches Sonderrecht selbst gestalten zu können".

Für die kirchliche Binnendiskussion ist der nachfolgende vierte Abschnitt wichtig. Er zeichnet nach, wie evangelischen Kirchen in den letzten Jahren versucht haben, die "Dienstgemeinschaft" in einen christlich-kirchlichen Terminus zu transformieren. Deswegen projizierten sie den Begriff in die Barmer Theologische Erklärung aus dem Jahr 1934 hinein. Mit der Barmer Erklärung hatte sich ein (kleinerer) Teil der evangelischen Kirche gegen die Gleichschaltung durch den NS-Staat zur Wehr gesetzt. Das Wort "Dienstgemeinschaft" findet sich dort aber nicht.

Im fünften, letzten Abschnitt legen Belitz, Klute, Schneider und Wendt-Kleinberg der evangelischen Kirche nahe, sich von dem Wort zu trennen und seine Implikationen zu korrigieren, zu denen "die Abwehr der Tarifverträge mit Streikrecht" gehört. Sie weisen auf die Doppelbödigkeit hin, dass neuere kirchenoffizielle Texte das Streikrecht explizit bejahen. Sobald es jedoch um die Kirche selbst als Arbeitgeberin geht, lehnt sie das Streikrecht unter Berufung auf die Dienstgemeinschaft bis heute ab.

 


 

Die Eingabe erinnert daran, dass der NS-Begriff der Dienstgemeinschaft in Verbindung mit der völkischen Ideologie eine antigewerkschaftliche Stoßrichtung besaß, weshalb Mitbestimmungs- und Betriebsratsregelungen, die in der Weimarer Republik gegolten hatten, im NS-Staat aufgehoben wurden. Unmittelbar nach Kriegsende durften die Gewerkschaften aufgrund von Weisungen der Alliierten wieder aktiv werden. Die Kirchen nutzten indessen den Begriff der Dienstgemeinschaft, um sich dieser demokratisch-sozialstaatlichen Entwicklung zu entziehen.

Die rechts- und kirchengeschichtlichen Einzelheiten, die diese Vorgänge betreffen, sind seit ca. 15 Jahren im Wesentlichen aufgearbeitet worden. In ihrer Eingabe stützen sich die Autoren auf die einschlägige Literatur. Folgerichtig halten sie es für inakzeptabel, dass die Kirchen ihre Verstrickung in das NS-Denken bis heute bagatellisieren.

Ihre Kirchenkritik trifft zu. Zusätzlich lassen sich sogar noch weitere Problempunkte nennen. So verschärften die christlichen Wohlfahrtsverbände zu Beginn der NS-Zeit den Antisemitismus, der bei ihnen schon zu Weimarer Zeiten anzutreffen gewesen war, und grenzten die jüdische Organisation aus dem damaligen Zusammenschluss der Wohlfahrtsverbände aus.

Wie befremdlich es ist, dass die Kirchen den Begriff der Dienstgemeinschaft nach Kriegsende beibehielten, kann man sich überdies anhand begriffsgeschichtlicher Vergleiche verdeutlichen. Die NS-Arbeitsgesetze des Jahres 1934 waren von damals maßgebenden Juristen wie Carl Schmitt oder Ernst Rudolf Huber begrüßt worden. Konzeptionell und begrifflich brachten sie dies dadurch zum Ausdruck, dass sie sagten, in den NS-Gesetzen gehe es um "konkrete Ordnung". Im Betrieb sollte die Volksgemeinschaft konkretisiert werden. In der Nachkriegszeit haben sich die Rechtswissenschaften von der Theorie und vom Begriff der "konkreten Ordnung" dann getrennt. Diesen Sachverhalt hat der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde dargelegt. Demgegenüber haben die Kirchen den Parallelbegriff "Dienstgemeinschaft" konserviert und ihn noch ausgebaut.  

Ihr Beharren auf der Dienstgemeinschaft irritiert erst recht deshalb, weil dieses Wort – soweit ersichtlich – eine spezifische Schöpfung der NS-Gesetzgebung darstellt. Nochmals zum Vergleich: Als Pendant spielte im NS-Arbeitsrecht der Term "Betriebsgemeinschaft" eine große Rolle. Er entstammte dem Rechtsdenken des 19. Jahrhunderts, war für die von Otto von Gierke entworfene Genossenschaftstheorie relevant gewesen und ist 1934 nationalsozialistisch ideologisch überfremdet worden. Seit der Nachkriegszeit ist er im juristischen Kontext ganz in den Hintergrund getreten. Hingegen haben die Kirchen ausgerechnet die originäre Wortprägung der NS-Zeit, die Dienstgemeinschaft, in die Nachkriegszeit hinein"gerettet".

Zutreffend legt die Eingabe dar, dass die Kirchen schlecht beraten sind, wenn sie dies alles heutzutage beschönigen. Inzwischen erfolgt die Beschönigung dadurch, dass kirchliche Verlautbarungen die Idee der Dienstgemeinschaft an die Barmer Theologische Erklärung von 1934 anbinden. Dies ist – wie die Eingabe betont – historisch und sachlich unzutreffend. Außerdem werden hiermit die Schattenseiten überspielt, die die Barmer Theologische Erklärung ihrerseits besitzt. Ihr kommt das Verdienst zu, einer Vereinnahmung der evangelischen Kirche durch den NS-Staat widersprochen zu haben. Andererseits darf man ihre Grenzen nicht verkennen. Sie versäumte es, sich gegen den Antisemitismus des NS-Staats zu wenden, und war keineswegs einem freiheitlichen demokratischen Staatsgedanken verpflichtet gewesen.  

Aus aktuellem Anlass liegt es nahe, die Kritik an der Dienstgemeinschaft, die die Eingabe vorträgt, noch in weiterer Hinsicht aufzugreifen.

 

Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass die Kirchen sogar noch stärker als zuvor den Begriff der Dienstgemeinschaft benutzen, um ihren Anspruch auf ein kirchliches Sonderarbeitsrecht abzustützen – obwohl dieses auch von höchstrichterlicher Judikatur in Frage gestellt wird. Im Jahr 2012 hatte das Bundesarbeitsgericht die Kirchen dazu genötigt, ihre Ausgrenzung von Gewerkschaften wenigstens ansatzweise zu revidieren. Bis 2012 hatten evangelisch oder katholisch getragene Einrichtungen Gewerkschaftsvertretern sogar das bloße Zutrittsrecht zu ihren Einrichtungen verwehrt, weil dies eine "Fremdbestimmung" der Kirche bedeute und einen "Ãœbergriff" darstelle. Sechs Jahre später, im Jahr 2018, hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) der katholischen und der evangelischen Kirche nun auferlegt, individuelle Grundrechte von Beschäftigten und von Arbeitsplatzbewerbern stärker zu respektieren als bislang. (...)

 

 

 Quelle und vollständiger Text unter:  

Verhängnisvolle Dienstgemeinschaft



5 Kommentare:

  1. Eine reaktionäre, misogyne, pädophilenschützende, homophobe und wie jede Form von Religion oder Esoterik irrationale Vereinigung praktiziert Jahrzehnte nach dem Untergang des Nazi-Regimes noch deren Arbeitsrecht. Hätte nicht gedacht, dass es immer noch schlimmer geht.

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  2. Die von den Kirchen vertretene gewerkschaftsfeindliche Ideologie des sogenannten "Dritten Weges" war mir bekannt, die bis heute (!) fortbestehende Ãœbernahme faschistischer Arbeitsrechts-Terminologie allerdings ist unglaublich.
    Wer als Gewerkschaftsmitglied noch einen Rest an politischem und moralischem Anstand hat, tritt sofort aus dieser Vereinigung aus.

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  3. Austritt? O.K.! Aber das eigentliche Problem ist, dass Staat und Justiz in Deutschland offenbar nicht bereit sind, gegen diese rechtlichen Sonderstatus der Kirchen etwas zu unternehmen. Die Kirchen sind bei uns so reich, dass sie keine Gläubigen brauchen. Das hat man am besten in der Erzdiözese Köln gesehen: das Kirchenvolk ist in Scharen gegangen, aber der Kardinal ist wieder da und treibt wie eh und je sein Unwesen.

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    1. Tja, die Verantwortung wird Staat und Justiz zugeschoben, persönliche Konsequenzen werden nicht gezogen, man bleibt halt schön weiter Mitglied im organisierten Aberglauben.

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