Großbritannien: Streik für das Recht auf Streik
Mit neuen Gesetzesverschärfungen will die britische Regierung auf die anhaltenden Streikwellen im Land reagieren. Das wollen die Gewerkschaften nicht auf sich sitzen lassen und rufen landesweit zu Streiks auf.
Am 1. Februar hat der britische Gewerkschaftsbund TUC zu einem landesweiten Protesttag ausgerufen, um „eine fundamentale britische Freiheit zu verteidigen“. Nach Schätzungen haben eine halbe Million Beschäftigte verschiedener Branchen die Arbeit niedergelegt. Sie demonstrierten für deutliche Lohnsteigerungen, bessere Arbeitsbedingungen – und für das Recht, weiterhin streiken zu können. Es ist einer der größten Streiks seit Jahrzehnten in Großbritannien und einer der Höhepunkt des „Winters des Unmuts".
Aber auch schon einen Tag vorher und auch in der Woche danach werden in
England hunderttausende Beschäftigte streiken, damit ihnen das Recht auf Streik
nicht genommen wird. Für den 31. Januar hatte der Europäische
Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst (EPSU) vor allem
Demonstrationen und Streiks im Gesundheitswesen angekündigt. Nach den
Beschäftigten im öffentlichen Dienst, in den Sozial- und Erziehungsdiensten am
1. Februar folgen am 3. Februar die Lehrer*innen, am 6. und 7. Februar
Pflegekräfte und Rettungsdienste mit weiteren Streiks. Bereits am 16. Januar
protestierte die RMT vor den Toren der Londoner Downing Street, dem britischen
Regierungssitz.
Der Hintergrund: Weil in Großbritannien immer mehr Beschäftigte gegen
Niedriglöhne und unzumutbare Arbeitsbedingungen streiken, plant die dortige
Regierung neue gesetzliche Angriffe auf das Streikrecht. Am 10. Januar
verkündete Wirtschaftsminister Grant Shapps im britischen Unterhaus
entsprechende Pläne. Ziel sei es, der Regierung eine Handhabe zu schaffen
damit, „öffentliche Dienstleistungen Basisfunktionen aufrechterhalten können“.
Der Gesetzentwurf „Minimum Services Bill“ wurde ursprünglich als Mittel zur
Bekämpfung von Eisenbahnerstreiks von der britischen Regierung im Unterhaus
eingebracht. Ziel war es, die Eisenbahngewerkschaften zu zwingen, im Streikfall
einen Teil ihrer Mitglieder an die Arbeit zu schicken, um so einen
Mindestbetrieb zu garantieren. Am 10. Januar fand die zweite Lesung statt. Sie
wurde von Wirtschaftsminister Grant Shapps genutzt, um die Wirkungsmacht des
geplanten Gesetzes drastisch auszuweiten. Nun geht es nicht mehr „nur“ gegen
Eisenbahner*innen, sondern auch gegen das Gesundheitspersonal, den
Bildungsbereich, die Feuerwehren, den gesamten Transportsektor, den Grenzschutz
sowie jene lohnabhängig Beschäftigten, die radioaktiven Müll entsorgen sollen.
Ende Januar hat das Unterhaus dem Gesetz in dritter Lesung zugestimmt. Es
muss jetzt noch das Oberhaus passieren. Nach verschiedenen
Medienberichten sind dort Widerstände zu erwarten.
Durch dieses Gesetz werden genau jene Branchen getroffen, die in den
vergangenen Monaten die größte Streikbereitschaft gezeigt haben.
Durch dieses Gesetz werden genau jene Branchen getroffen, die in den
vergangenen Monaten die größte Streikbereitschaft gezeigt haben. Teilweise geht
es um den öffentlichen Sektor, teilweise um öffentliche Dienstleistungen, die
aber von privaten Unternehmen durchgeführt werden. Mit dem geplanten Gesetz
würde sich der Staat ein Durchgriffsrecht schaffen, wo er bislang keines hatte.
Die Details sind aufgrund der sehr allgemeinen Formulierungen im vorliegenden
Gesetzestext sehr schwammig. Einiges kann jedoch bereits jetzt festgehalten
werden.
Das geplante Anti-Streik-Gesetz im Detail
Zum einen soll kollektive Solidarität im Streikfall untergraben werden. Das
Gesetz würde bei Inkrafttreten die Arbeitgeberseite bestreikter Betriebe
ermächtigen, Beschäftigte namentlich zu benennen, die während eines Streiks zur
Arbeit zwangsverpflichtet werden sollen. Streiken also zum Beispiel
Lehrer*innen, können Schulen zukünftig bestimmten Kolleg*innen mitteilen: „Ihr
arbeitet heute und bietet Not-Unterricht an, damit eine Grundversorgung
gewährleistet ist“. Sagt nun eine Lehrerin: „Nein, das mache ich nicht. Ich
will meinen streikenden Kolleg*innen nicht in den Rücken fallen“, droht ihr die
fristlose Kündigung. Mick Lynch, der Vorsitzende der
Transportarbeiter*innengewerkschaft RMT spricht deshalb auch von einer
„Einführung von Zwangsarbeit für Arbeiter*innen“.
Das klingt drastisch, hat aber einen realen Hintergrund. Denn das Gesetz
gibt dem Staat Mittel in die Hand, Mindestbesetzungen bestreikter Betriebe
einfach festzulegen. Wollen also Krankenwagenfahrer*innen streiken, könnte eine
Regierung vielleicht bald einfach eine Mindestpersonaldecke vorschreiben, die
während der Streiktage gewährleistet werden muss. Für den Fall, dass eine an
einem Streik beteiligte Gewerkschaft nicht kooperiert, droht der
Gesetzesentwurf den Gewerkschaften mit dem Verlust des bislang existierenden
Schutzes vor Schadensersatzforderungen durch bestreikte Unternehmen.
Dies ist aber die einzige in Großbritannien existierende Rechtssicherheit,
die legale Streiks überhaupt ermöglicht. Ansonsten gibt es in Großbritannien
kein „Recht auf Streik“. Und auch dieser Schutz wurde von den regierenden
Tories in den vergangenen Jahren immer weiter ausgehöhlt. So müssen sich
inzwischen in manchen Branchen mindestens 40 Prozent einer Belegschaft an einer
brieflichen Urabstimmung für einen Streik beteiligen, damit die Urabstimmung
überhaupt gültig ist.
Die Ironie an der Sache ist, dass britische Gewerkschaften – ähnlich wie in
Deutschland – in Branchen wie dem Gesundheitswesen schon immer im Vorfeld von
Streiks Mindestbesetzungen etwa von Pflegekräften im Stationsbetrieb von
Krankenhäusern lokal ausverhandelt haben. Und ähnlich wie in Deutschland führt
dies nicht selten dazu, dass Patient*innen an Streiktagen besser versorgt
werden, als im durch jahrzehntelange Einsparungen ausgedünnten „Normalbetrieb“.
Widerstand gegen das Gesetz wächst
Ähnliches beschrieb Mick Lynch am 11. Januar im Rahmen einer Befragung durch
den Verkehrsausschuss im britischen Unterhaus. Ein konservativer Abgeordneter
fragte den Gewerkschaftsvorsitzenden, ob dieser nicht anerkennen müsse, dass
Streiks dafür sorgen, dass Menschen sich von öffentlichen Verkehrsmitteln
abwenden. „Was ist mit den Tagen, an denen wir nicht streiken?“, war Lynchs
Gegenfrage, und spielte damit auf die zahlreichen, durch Stellenabbau
verursachten Zugausfälle in Großbritannien an.
Eines scheint jedenfalls klar. Ohne Gegenwehr wird das neue
Anti-Streikgesetz nicht in Kraft treten können. Auch international protestieren
bereits die Gewerkschaften, so etwa der EPSU, der Europäische
Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst. Auch ver.di hat angekündigt,
die britischen Gewerkschaften in ihrem Widerstand zu unterstützen.
Text: Christian Bunke, Manchester
Mehr erfahren zu den Streiks im
britischen Gesundheitswesen, dem National Health Service.
Solidarität mit den
britischen Gewerkschaften
ver.di, der Europäische Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst (EPSU)
und die Europäische Transportarbeiter-Föderation (ETF) verurteilen das
englische Parlament und die Regierung des Vereinigten Königreichs aufs
Schärfste. Sie fordern die Annahme des Gesetzentwurfs, der das Streikrecht
zuvorderst im Transportwesen massiv einschränkt, aufzuheben und ähnliche
Mindestdienstleistungsanforderungen in anderen Sektoren nicht einzuführen.
© Christian Jungeblodt
Die aktuelle Streikwelle im Transportwesen und in anderen Branchen ist vielmehr auf die mangelnde Bereitschaft der Regierung und der Arbeitgeber zurückzuführen, mit den Gewerkschaften zu verhandeln, um langanhaltende Probleme zu lösen, von denen Arbeitnehmer im Transportwesen betroffen sind.
Schlüsselkräfte wurden jahrzehntelang vernachlässigt, ihre
Arbeitsbedingungen durch die Kürzung öffentlicher Mittel und das Drängen auf
Privatisierung untergraben. Es sind dieselben Arbeiter, deren Arbeit
während der COVID-19-Pandemie noch gelobt wurde. Der Applaus war jedoch
der einzige Dank der Regierung. Stattdessen werden den Beschäftigten nun
angemessene Maßnahmen verweigert.
ver.di, EPSU und ETF schließen sich deshalb den Aussagen der britischen
Gewerkschaften an: Diese Gesetzgebung dient nur dazu, Beschäftigte zu
kriminalisieren und zu bestrafen, die Demokratie am Arbeitsplatz zu untergraben
und die Wirksamkeit aller Arten von Streiks einzuschränken. Das
Streikrecht ist ein unveräußerliches Recht der Arbeitnehmer.
Solidarität auch im Streik
Trotz der Notwendigkeit, die in der geltenden Gesetzgebung festgelegten
hohen Stimmschwellen einzuhalten, beteiligen sich mehrere
EPSU-Mitgliedsorganisationen derzeit an landesweiten Streiks in England mit
ihren Kampagnen zur Sicherung besserer Löhne und Arbeitsbedingungen für die
Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Zu den streikenden Gewerkschaften gehören
UNISON, GMB und Unite im Rettungsdienst (nächste Aktionen in England und Wales
am 23. Januar), die Pflegegewerkschaft RCN im Gesundheitswesen (nächste
Maßnahmen am 18. und 19. Januar) und die PCS-Gewerkschaft in der
Zentralregierung (Streik in der gesamten Zentralregierung am 1. Februar).
Solidarity with Great Britain!
Quelle: www.verdi.de
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