Dienstag, 18. Januar 2022

Niedrige Monatsentgelte: Je nach Region zwischen 6% und 43% betroffen

Neue Studie der Hans-Böckler-Stiftung liefert Daten für alle Städte und Landkreise


 


Der Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die trotz Vollzeitarbeit ein niedriges Monatsentgelt von weniger als zwei Dritteln des mittleren monatlichen Bruttoarbeitsentgeltes aller sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten bekommen, ist in den vergangenen Jahren zurückgegangen, vor allem in Ostdeutschland. Trotzdem haben auch 2020 bundesweit noch knapp 19 Prozent der sozialversicherungspflichtig in Vollzeit Beschäftigten in diesem nach Definition der Bundesagentur für Arbeit (BA) „unteren Entgeltbereich“ gearbeitet. 

Dessen Obergrenze lag 2020 bei maximal 2284 Euro brutto monatlich. Das ergibt eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, die auch die neusten verfügbaren Daten für alle deutschen Landkreise und kreisfreien Städte liefert.* 

Die Auswertung zeigt große Unterschiede nach Regionen, Geschlechtern, Branchen und Qualifikation: Während 2020 in Wolfsburg oder Erlangen 6,4 bzw. 8,3 Prozent der Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltbereich arbeiteten, galt das etwa in Görlitz oder dem Saale-Orla Kreis jeweils für spürbar mehr als 40 Prozent. Die höchste Quote weist der Erzgebirgskreis mit 43,2 Prozent auf (siehe auch die Tabelle in der pdf-Version dieser PM; Link unten). 

Unter den Frauen müssen bundesweit 25,4 Prozent mit einem niedrigen Monatseinkommen trotz Vollzeitarbeit auskommen, unter den Männern 15,4 Prozent. Überdurchschnittlich häufig betroffen sind auch junge Vollzeitbeschäftigte, solche mit ausländischer Staatsangehörigkeit und Personen ohne Berufsabschluss. Besonders ausgeprägt ist der untere Entgeltbereich in Branchen wie dem Gastgewerbe, der Leiharbeit oder der Land- und Forstwirtschaft.

Für die Studie werteten die WSI-Forscher Dr. Eric Seils und Dr. Helge Emmler die aktuellsten verfügbaren Entgelt-Daten der BA zur „Kerngruppe“ der Vollzeitbeschäftigten aus, in der die große Mehrheit der sozialversicherungspflichtig Beschäftigen erfasst ist, aber beispielsweise keine Auszubildenden. Die Daten stammen aus Meldungen von Arbeitgebern zur Sozialversicherung und kommen häufig direkt aus der betrieblichen Lohnbuchhaltungssoftware, daher dürften sie nach Einschätzung der Wissenschaftler auch für die Ebene von Stadt- und Landkreisen verlässlich sein. 

Seils und Emmler konzentrieren sich in ihrer Untersuchung auf Personen, die laut BA-Statistik Vollzeit arbeiten und trotzdem 2020 höchstens 2284 Euro monatliches Bruttoeinkommen erzielten. Bei diesem Wert setzt die Bundesagentur aktuell die bundesweite Obergrenze des unteren Entgeltbereichs an. Genaue Arbeitszeiten enthält die BA-Statistik nicht, so dass es nicht möglich ist, Stundenlöhne zu berechnen.

Deutschlandweit zählten 2020 nach der Abgrenzung der BA 18,7 Prozent der Vollzeitbeschäftigten zu den Geringverdienenden. Seit 2011 ist dieser Anteil in kleinen jährlichen Schritten von damals 21,1 Prozent kontinuierlich gesunken, gleichzeitig stieg die statistische Zwei-Drittel-Verdienstgrenze um rund 10 Prozent. Der Rückgang fiel in Ostdeutschland deutlich stärker aus als im Westen, allerdings auf einem viel höheren Ausgangs- und Endniveau (Rückgang von 39,3 auf 29,1 Prozent im Osten gegenüber 16,9 auf 16,4 Prozent im Westen; siehe auch Tabelle 2 in der Studie; Link unten). 

Da gleichzeitig bundesweit die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung deutlich wuchs, haben sich die absoluten Zahlen der Betroffenen unterschiedlich entwickelt: Während im Osten die Zahl der Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltbereich um gut 320.000 sank, stieg sie im Westen um mehr als 200.000 Personen an.

Obwohl sich der Abstand zwischen West und Ost somit verringerte, bleiben die regionalen Differenzen nach der WSI-Analyse weiterhin groß: Unter den ostdeutschen Stadt- und vor allem den Landkreisen sind Quoten von mehr als 30 Prozent weiterhin relativ häufig. Dagegen bleiben im Westen auch jene vorwiegend ländlich geprägten Regionen mit vergleichsweise hohen Anteilen unter dieser Marke, wenn auch in einigen Kreisen von Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und vereinzelt in Bayern nur relativ knapp. Generell ist Vollzeitarbeit im unteren Entgeltbereich in ländlichen Regionen, in denen es vor allem Kleinbetriebe und eher wenig Industrie gibt, stärker verbreitet.

Im bundesweiten Vergleich niedrige Quoten sind dementsprechend meist in Städten bzw. Ballungsräumen zu finden, in denen große Arbeitgeber im industriellen, im Finanz-, im Wissensbereich und der Verwaltung eine wichtige Rolle spielen. Das gilt neben Wolfsburg und Erlangen beispielsweise auch für Stuttgart, Ingolstadt, Darmstadt, Stadt und Landkreis München, den Kreis Böblingen und Städte wie Salzgitter, Ludwigshafen, Frankfurt am Main, Karlsruhe oder Bonn, wo zwischen rund neun und rund 11 Prozent der Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltbereich arbeiten (siehe auch die detaillierten Daten im verlinkten Anhang der Studie). 

Ländlichere Regionen mit relativ niedrigen Quoten finden sich am ehesten in Baden-Württemberg. Unter den größten deutschen Städten weisen auch Köln, Düsseldorf und Hamburg Geringverdiener-Anteile deutlich unter dem bundesweiten Durchschnitt von 18,7 Prozent auf, während Berlin mit 19,2 Prozent knapp darüber liegt.

Diese regionale Verteilung korrespondiert mit weiteren Mustern, die Seils und Emmler bei der Datenanalyse beobachten: Der Anteil der Geringverdienste liegt bei Vollzeitbeschäftigten ohne Berufsabschluss bei 40,8 Prozent, bei Beschäftigten mit beruflichem Abschluss bei 17,8 und bei Personen mit Hochschulzertifikat bei lediglich 4,9 Prozent.

Auch die Branchenverteilung spielt eine wichtige Rolle: Im Gastgewerbe (68,9 Prozent), in Leiharbeit (67,9 %) und Land- und Forstwirtschaft (52,7 %) arbeiten mehr als die Hälfte der Vollzeitkräfte im unteren Entgeltbereich. Deutlich überdurchschnittliche Anteile weisen unter anderem auch der Bereich „Kunst und Unterhaltung“ sowie private Haushalte (33,2 %), die Logistik (28,3 %) oder der Handel (24,9 %) auf. Das Sozial- (19,5 %) und das Gesundheitswesen (17,8 %) liegen knapp über bzw. knapp unter dem allgemeinen Mittel. Im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt sind 11,5 Prozent der Vollzeitkräfte im unteren Entgeltbereich beschäftigt, in der Metall- und Elektroindustrie 7,6 Prozent. In der Finanz- und Versicherungsbranche liegt der Anteil bei 4,2 Prozent und im öffentlichen Dienst bei 2,5 Prozent (siehe auch Tabelle 1 in der Studie).

Ein anderer statistischer Zusammenhang mag auf den ersten Blick irritieren: Stadt- und Landkreise mit hohen Wohnkosten weisen niedrigere Anteile von Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltbereich auf. „In Regionen mit hohen Mieten sind zumeist auch die Löhne höher. Das bedeutet aber nicht unbedingt mehr Kaufkraft für die Beschäftigten, weil die Mieten und Preise den höheren Lohn gleichsam auffressen“, sagt WSI-Forscher Eric Seils.

„Unsere Analyse zeigt einerseits einige positive Tendenzen: In den letzten Jahren ist es gelungen, den unteren Entgeltbereich zurückzudrängen“, fasst sein Forscherkollege Helge Emmler die Befunde zusammen. Dies gelte insbesondere für Ostdeutschland. Allerdings sei vor allem dort der untere Entgeltbereich weiterhin stark verbreitet und zugleich die Tarifbindung weit niedriger als im Westen. „Die geplante Anhebung des Mindestlohnes auf 12 Euro ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Um hier weiter zu kommen, ist darüber hinaus eine Stärkung der Tarifbindung erforderlich“, so Emmler.


Quelle: www.boeckler.de

2 Kommentare:

  1. Schämt Euch Ihr Hugendubels: Armutslöhne und in der Kurzarbeit im Stich gelassen. Pfui!

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    1. Meinst du, so im Stich gelassen, wie die paar Dutzend Kolleg*innen, die regelmäßig für höhere Löhne gestreikt haben, von denen im Stich gelassen wurden, die nicht mitgemacht haben, oder meinst du anders im Stich gelassen?
      Meinst du, sich so schämen, wie die paarhundert Streikbrecher, die nie für höhere Löhne gestreikt haben, sich schämen sollten, dass sie nicht mitgemacht haben, oder meinst du, sich anders schämen?

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