Immanuel Kant: Was ist Aufklärung?
AUFKLÄRUNG ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und desMutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.
Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenenVerstandes zu bedienen!ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.
Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben.
Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außerdem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einige mal Fallen wohl endlich gehenlernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten.
Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig,sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehrMißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennochauch über den schmalesten Graben einen nur unsicheren Sprung tun,weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende, sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geisteiner vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs je-des Menschen, selbst zu denken, um sich verbreiten werden.
Besonders ist hiebei: daß das Publikum, welches zuvor von ihnen unter dieses Joch gebracht worden, sie hernach selbst zwingt, darunter zubleiben, wenn es von einigen seiner Vormünder, die selbst aller Aufklärung unfähig sind, dazu aufgewiegelt worden; so schädlich ist es,Vorurteile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen,die oder deren Vorgänger ihre Urheber gewesen sind. Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen.
Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden, ebensowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag,nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichenGebrauchzu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsonniert nicht!Der Offizier sagt: räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, abergehorcht!)
Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich, welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: Der öffentliche Ge-brauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserweltmacht.
Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf. Nun ist zu manchen Geschäften, die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen,ein gewisser Mechanism notwendig, vermittelst dessen einige Glieder des gemeinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen, umdurch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet oder wenigstens von der Zerstörung dieser Zwecke abgehalten zu werden. Hier ist es nun freilich nicht erlaubt zu räsonnieren; sondern man muß gehorchen. Sofern sich aber dieser Teil der Maschine zugleich als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft ansieht, mithin in der Qualität eines Gelehrten, der sich an ein Publikum im eigentlichen Verstande durch Schriften wendet, kann er allerdings räsonnieren,ohne daß dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum Teile als passives Glied angesetzt ist.
So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehlslaut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als Gelehrter über die Fehler im Kriegesdienste Anmerkungen zu machen und diese seinem Publikum zur Beurteilung vorzulegen.
Der Bürger kann sich nicht weigern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten; sogar kann ein vor-witziger Tadel solcher Auflagen, wenn sie von ihm geleistet werden sollen, als ein Skandal (das allgemeine Widersetzlichkeiten veranlassen könnte) bestraft werden.
Ebenderselbe handelt dem ohngeachtet der Pflicht eines Bürgers nicht entgegen, wenn er als Gelehrter wider die Unschicklichkeit oder auch Ungerechtigkeit solcherAusschreibungen öffentlich seine Gedanken äußert. Ebenso ist ein eistlicher verbunden, seinen Katechismusschülern und seiner Gemeine nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zutun, denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seinesorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol und Vorschläge wegen besserer Einrichtungdes Religions- und Kirchenwesens dem Publikum mitzuteilen.
Es ist hiebei auch nichts, was dem Gewissen zur Last gelegt werden könnte. Denn was er zufolge seines Amts als Geschäftträger der Kirche lehrt, das stellt er als etwas vor, in Ansehung dessen er nicht freie Gewalt hat, nach eigenem Gutdünken zu lehren, sondern das er nachVorschrift und im Namen eines andern vorzutragen angestellt ist.
Er wird sagen: unsere Kirche lehrt dieses oder jenes; das sind die Beweisgründe, deren sie sich bedient. Er zieht alsdann allen praktischen Nutzen für seine Gemeinde aus Satzungen, die er selbst nichtmit voller Überzeugung unterschreiben würde, zu deren Vortrag ersich gleichwohl anheischig machen kann, weil es doch nicht ganz unmöglich ist, daß darin Wahrheit verborgen läge, auf alle Fälle aber wenigstens doch nichts der innern Religion Widersprechendes darinangetroffen wird. Denn glaubte er das letztere darin zu finden, sowürde er sein Amt mit Gewissen nicht verwalten können; er müßte es niederlegen. Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer vonseiner Vernunft vor seiner Gemeinde macht, ist bloß ein Privatgebrauch, weil diese immer nur eine häusliche, obzwar noch so großeVersammlung ist; und in Ansehung dessen ist er als Priester nicht frei und darf es auch nicht sein, weil er einen fremden Auftrag ausrichtet.
Dagegen als Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Gebraucheseiner Vernunft, genießt einer uneingeschränkten Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen. Denn daß die Vormünder des Volks (ingeistlichen Dingen) selbst wieder unmündig sein sollen, ist eine Ungereimtheit, die auf Verewigung der Ungereimtheiten hinausläuft. Aber sollte nicht eine Gesellschaft von Geistlichen, etwa eine Kirchenversammlung oder eine ehrwürdige Classis (wie sie sich unterden Holländern selbst nennt) berechtigt sein, sich eidlich untereinander auf ein gewisses unveränderliches Symbol zu verpflichten, umso eine unaufhörliche Obervormundschaft über jedes ihrer Gliede rund vermittelst ihrer über das Volk zu führen und diese so gar zu verewigen?
Ich sage: das ist ganz unmöglich. Ein solcher Kontrakt, derauf immer alle weitere Aufklärung vom Menschengeschlechte abzuhalten geschlossen würde, ist schlechterdings null und nichtig; und sollte er auch durch die oberste Gewalt, durch Reichstage und die feierlichsten Friedensschlüsse bestätigt sein. Ein Zeitalter kann sichnicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zu-stand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muß, seine (vornehmlich so sehr angelegentliche) Erkenntnisse zu erweitern, vonIrrtümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiterzu-schreiten.
Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht; und die Nachkommen sind also vollkommen dazu berechtigt,jene Beschlüsse, als unbefugter und frevelhafter Weise genommen,zu verwerfen. Der Probierstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sichselbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte?
Nun wäre dieseswohl, gleichsam in der Erwartung eines bessern, auf eine bestimmte kurze Zeit möglich, um eine gewisse Ordnung einzuführen; indem man es zugleich jedem der Bürger, vornehmlich dem Geistlichen,frei ließe, in der Qualität eines Gelehrten öffentlich, d. i. durch Schriften, über das Fehlerhafte der dermaligen Einrichtung seine Anmerkungen zu machen, indessen die eingeführte Ordnung nochimmer fortdauerte, bis die Einsicht in die Beschaffenheit dieser Sachen öffentlich so weit gekommen und bewähret worden, daß siedurch Vereinigung ihrer Stimmen (wenngleich nicht aller) einen Vorschlag vor den Thron bringen könnte, um diejenigen Gemeindenin Schutz zu nehmen, die sich etwa nach ihren Begriffen der besseren Einsicht zu einer veränderten Religionseinrichtung geeinigt hätten, ohne doch diejenigen zu hindern, die es beim alten wollten bewenden lassen.
Aber auf eine beharrliche, von niemanden öffentlich zu bezweifelnde Religionsverfassung auch nur binnen der Lebensdauer eines Menschen sich zu einigen, und dadurch einen Zeitraum in dem Fortgange der Menschheit zur Verbesserung gleichsam zuvernichten und fruchtlos, dadurch aber wohl gar der Nachkommenschaft nachteilig zu machen, ist schlechterdings unerlaubt. Ein Mensch kann zwar für seine Person und auch als dann nur auf einigeZeit in dem, was ihm zu wissen obliegt, die Aufklärung aufschieben;aber auf sie Verzicht zu tun, es sei für seine Person, mehr aber nochfür die Nachkommenschaft, heißt die heiligen Rechte der Menschheit verletzen und mit Füßen treten.
Was aber nicht einmal ein Volküber sich selbst beschließen darf, das darf noch weniger ein Mon-arch über das Volk beschließen; denn sein gesetzgebendes Ansehen beruht eben darauf, daß er den gesamten Volkswillen in dem seinigen vereinigt. Wenn er nur darauf sieht, daß alle wahre oder ver-meinte Verbesserung mit der bürgerlichen Ordnung zusammenbestehe, so kann er seine Untertanen übrigens nur selbst machenlassen, was sie um ihres Seelenheils willen zu tun nötig finden; das geht ihn nichts an, wohl aber zu verhüten, daß nicht einer den andern gewalttätig hindere, an der Bestimmung und Beförderung desselben nach allem seinen Vermögen zu arbeiten. Es tut selbst seiner Majestät Abbruch, wenn er sich hierin mischt, indem er die Schriften,wodurch seine Untertanen ihre Einsichten ins reine zu bringen suchen, seiner Regierungsaufsicht würdigt, sowohl wenn er dieses auseigener höchsten Einsicht tut, wo er sich dem Vorwurfe aussetzt:
Caesar non est supra grammaticos, als auch und noch weit mehr,wenn er seine oberste Gewalt so weit erniedrigt, den geistlichen Despotism einiger Tyrannen in seinem Staate gegen seine übrigen Untertanen zu unterstützen.Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter derAufklärung.
Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im ganzen genommen, schon imstande wären oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung oder des Ausganges aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung oder das Jahrhundert Friedrichs.
Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet zu sagen, daß er es für Pflichthalte, in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der also selbst den hochmütigen Namen der Toleranz von sich ablehnt: ist selbst aufgeklärt und verdient von der dankbaren Welt und Nachwelt als derjenige gepriesen zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit, wenigstens von Seiten der Regierung,entschlug und jedem frei ließ, sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen.
Unter ihm dürfen verehrungswürdige Geistliche, unbeschadet ihrer Amtspflicht, ihrevom angenommenen Symbol hier oder da abweichenden Urteile und Einsichten in der Qualität der Gelehrten frei und öffentlich der Welt zur Prüfung darlegen; noch mehr aber jeder andere, der durch keine Amtspflicht eingeschränkt ist.
Dieser Geist der Freiheit breitet sich auch außerhalb aus, selbst da, wo er mit äußeren Hindernissen einersich selbst mißverstehenden Regierung zu ringen hat. Denn es leuchtet dieser doch ein Beispiel vor, daß bei Freiheit für die öffentliche Ruhe und Einigkeit des gemeinen Wesens nicht das mindeste zu besorgen sei. Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach aus der Rohigkeit heraus, wenn man nur nicht absichtlich künstelt, um sie darin zu erhalten.
Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, die des Ausganges der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen gesetzt, weil in Ansehung der Künste und Wissenschaften unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Untertanen zu spielen, überdem auch jene Unmündigkeit,so wie die schädlichste, also auch die entehrendste unter allen ist.Aber die Denkungsart eines Staatsoberhaupts, der die erstere begün-stigt, geht noch weiter und sieht ein: daß selbst in Ansehung seiner Gesetzgebunges ohne Gefahr sei, seinen Untertanen zu erlauben,von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen unihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben, sogar mit einer freimütigen Kritik der schon gegebenen, der Welt öffentlich vorzulegen; davon wir ein glänzendes Beispiel haben, wodurch nochkein Monarch demjenigen vorging, welchen wir verehren.
Aber auch nur derjenige, der, selbst aufgeklärt, sich nicht vor Schatten fürchtet, zugleich aber ein wohldiszipliniertes zahlreichesHeer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat, – kann das sa-gen, was ein Freistaat nicht wagen darf: räsonniert, so viel ihr wollt,und worüber ihr wollt; nur gehorcht!
So zeigt sich hier ein befremdlicher, nicht erwarteter Gang menschlicher Dinge; so wie auch sonst, wenn man ihn im großen betrachtet, darin fast alles paradox ist. Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volks vorteilhaft und setzt ihr doch unübersteiglicheSchranken;
ein Grad weniger von jener verschafft hingegen diesem Raum, sich nach allem seinen Vermögen auszubreiten. Wenn denndie Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nachfähiger wird), und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.1
Königsberg in Preußen, den 30. September 1784
Immanuel Kant – 1724 bis1804, Philosoph in Königsberg. Wir veröffentlichenden Text nach dem Original. Er erschien zuerst unterdem Titel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« in: »Berlinische Monatsschrift«, Dezember-Heft 1784, S. 481-494.
Quelle: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/159_kant.pdf
Mit Verlaub: bereits Kants Zeitgenosse Hamann hat mit Recht kritisiert, dass bei besagter Unmündigkeit von Selbstverschulden meist nicht die Rede sein kann - und ich verstehe zwar dass das Bildungsbürgertum solche Sätze liebt, aber einfach nachplappern sollte man ihn als Gewerkschafter*in besser nicht. Hier heißt es: Sapere aude! - aber sicherlich nicht so, wie Kant das versteht. Hinzu kommt, dass, wer weiterliest, auf den untertänigsten Satz stößt: "In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung oder das Jahrhundert Friedrichs." Und mit dieser Lobeshymne auf den alten Fritz nicht genug - auch der Liberalismus und die Demokratie kriegen ordentlich ihr Fett weg; denn: "Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volks vorteilhaft und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken; ein Grad weniger von jener verschafft hingegen diesem
AntwortenLöschenRaum, sich nach allem seinen Vermögen auszubreiten." - Also mal immer hübsch langsam mit der Kanterei.
Ich wüsste keinen Grund, warum eine Demokratie unfähig sein sollte, ihre Probleme zu lösen - und es gibt auch keinen. Man findet in der neueren Geschichte eine Menge Beispiele, wo es geklappt hat; aber keines dafür, dass durch den vielgerühmten starken Mann je irgendwas besser geworden wäre. Und gerade als Deutsche sollten wir das eigentlich langsam kapieren - hat auch was mit Aufklärung zu tun: einfach nicht den Bullshit glauben, der an jeder Pommesbude verzapft wird!
LöschenWer freiwillig Irrationalismen wie Religion oder Esoterik nachläuft, der bleibt selbstverschuldet in Unmündigkeit.
AntwortenLöschenDas ist zwar nicht falsch. Aber die Kritik an religiösem Aberglauben bzw. esoterischem Beglückertum war schon zu Kants Zeiten - eben unter jenem ach so toleranten Fredericus Rex - eine wohlfeile Angelegenheit, mit der man sich nicht allzu viel Ärger einhandeln konnte. Und genau das hatte der biedere Herr Magister Kant mit seiner Schmalspur-Aufklärerei ganz offensichtlich auch bezweckt: revolutionär sein, aber immer schön im Rahmen dessen, was die Polizei erlaubt.
LöschenHeute geht das natürlich noch viel einfacher: die Scheiterhaufen sind rar geworden, und es ist sehr viel weniger brenzlig den Papst zu kritisieren als seinen Chef oder seine Chefin - und deshalb findet ersteres auch mit entsprechender Ausgiebigkeit statt, zweiteres meist in einem wohl eher bescheidenen Rahmen.
Wenn es um die Frage nach "selbstverschuldet" geht, sollte man daher gerade im Europa des 21. Jahrhunderts und der leeren Gotteshäuser nicht unbedingt zuerst an Religion und Esoterik denken, sondern mal wieder auf die gute alte Wirtschaft und Politik zu sprechen kommen. Um es kurz zu machen, möchte ich in diesem Zusammenhang nur an den am Donnerstag, den 28. Oktober 2021, in diesem Blog veröffentlichten Beitrag "Einer von Hundert" erinnern.
Glaubt ihr denn wirklich, dass geistige Unmündigkeit nichts mit Bildung zu tun hat? Und dass in einer Gesellschaft, in der es von hundert Arbeiterkindern nur eines auf die Uni schafft, diese Unmündigkeit selbst verschuldet ist? Es kann schon sein, dass wir noch immer manch selbstverschuldetes Problem mit Religion und Esoterik haben, aber ein weitaus größeres ist das fremdverschuldete in einem Gesellschaftssystem, in dem Wissen und Bildung Privilegien sind.
Das hätte, wenn er nicht so ein Feigling gewesen wäre, schon der alte Kant wissen können, weil Georg Hamann es auch gewusst hat; ich weiß es, obwohl ich kein Magus des Nordens bin, sondern nur den Verdi-Infoblog regelmäßig lese; und alle übrigen sollten es auch wissen - weil man sich sonst nämlich leicht an der Unmündigkeit anderer mitschuldig macht.
und was weiter?
LöschenEtwas freiwllig tun und glauben zu können, ist eine so üble Sache nicht. Es gibt genug Weltgegenden, in denen unfreiwillig Irrationalismen nachgelaufen werden muß, weil andernfalls Sanktionen drohen.
Welche Instanz wäre außerdem befugt, die Irrationalismen, denen nachgelaufen werden darf (vielleicht Sozialismus?) von denen zu scheiden, denen nicht nachgelaufen werden darf (vielleicht Glaube an Chemtrails oder Islam)).
Kant wohl nicht, der ist tot und überholt!
Du? Ich? Der Rundfunkrat?
Einen wiedererweckten Christen wie Hamann als leuchtendes Beispiel zu präsentieren,, der Gott über die Vernunft und Glauben über Wissen stellte, ist ziemlich fragwürdig. Und ein Radikalaufklärer wie Julian Offray de la Mettrie, der in Sanssouci Zuflucht fand, wäre sicher auch im Machtbereich des absolutistischen Gottesgnadentums aller Sorgen ledig gewesen, nämlich einen Kopf kürzer.
LöschenVon mir aus mag jeder weiterhin an Religion, Esoterik oder sonstigen Unsinn glauben, intellektuell kann ich solche Leute nicht ernst nehmen.
Wenn ich richtig lesen kann, und das kann ich, stand da nicht, dass Hamann wegen seiner Glaubenseinstellung ein leuchtendes Beispiel (wofür überhaupt?) sein soll, sondern da stand, dass er Kant in einem bestimmten Punkt mit Recht kritisiert hat - und hierbei geht es um die Frage der Gedankenfreiheit: nämlich inwieweit man die von Kant konstatierte Unmündigkeit des Menschen als selbstverschuldet bezeichnen kann. (Wörter wie "Gott" oder "Religion" fallen meines Wissens in diesem Zusammenhang gar nicht - dafür aber eine recht modern anmutende Bemerkung über Kants Frauenbild!) Und ich habe noch nicht gelesen, was an Hamanns Kritik sachlich unberechtigt sein sollte.
LöschenAlso bitte mit der Deutung und Antwort ein bisschen näher am Text bleiben. Das hat selten geschadet. Vor allem, weil man sonst auch ganz ohne Religion und Esoterik ein wenig ins Irrationale abdriften könnte - und es aus lauter intellektuellem Anderenichternstnehmenkönnen gar nicht mal bemerkt.
Und ganz nebenbei: Fredericus Rex hat De la Mettrie zwar bis zuletzt als eine Art Hofclown geduldet (Voltaire spottete über den "Hofatheisten), aber nach Veröffentlichung des "Discours sur le bonheur" auf Grundlage des eigens dafür erlassenen "Edikt[s] wegen der wiederhergestelten Censur" das Werk konfiszieren und den Verfasser für unzurechnungsfähig erklären lassen.
Und was hätte er wohl getan, wenn De la Mettrie nicht nur als Materialist, sondern auch als Republikaner an die Öffentlichkeit getreten wäre?
Hallo Cheiron und Anonym vom Dienstag, 4. Januar 2022 um 15:56:00 MEZ,
Löschenich wusste gar nicht, dass der aufgeklärte Absolutismus in Deutschalnd immer noch Anhänger hat - zumal bei Gewerkschafter*innen. Aber was sind schon schon 70 Jahre Demokratie im Vergleich zu über 1000 Jahren deutscher Geschichte - gell?
Ich fürchte, es gibt auch innerhalb der Gewerkschaften und deren Mitgliedern eine Menge, das nicht gewußt wird oder ganz gewollt ausgeblendet wird. Hast Du gedacht, das wäre eine Disziplin, die nur die Rechten beherrschen? So ist es nicht!
LöschenDie Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft werden sich zudem nicht ohne eine gewisses Maß Absolutismus angehen lassen, das glaub mal!
Wer ein Beispiel dafür braucht, wie Kants Aufklärungsbegriff Wirklichkeit werden kann, braucht sich nur Greta Thunberg und die jungen Leute anzusehen, die bei FFF mitgemacht haben. Dass sie das fertiggebracht haben und andere nicht, bedeutet aber noch keineswegs, dass jede*r, der nicht auf die Idee gekommen ist, selbst daran schuld, faul oder feige wäre, wie Kant das unterstellt. Denn es wurden ja während all der Jahre vorher von Wirtschaft und Politik nicht gerade wenig Anstrengungen unternommen und auch jede Menge Geld ausgegeben, um den Leuten einzureden, dass es keinen "Klimawandel
AntwortenLöschenWer ein aktuelles Beispiel dafür braucht, wie Kants Aufklärungsbegriff Wirklichkeit werden kann, braucht sich nur Greta Thunberg und die jungen Leute anzusehen, die bei FFF mitgemacht haben. Dass sie das fertiggebracht haben und andere nicht, beweist aber keineswegs, dass diese anderen ganz allein selber schuld und nur feige oder träge gewesen wären. Denn Wirtschaft und Politik haben ja all die Jahre vorher eine Menge Anstrengungen unternommen und sehr viel Geld ausgegeben, um den Leuten einzureden, dass der sogenannte Klimawandel (besser sollte von einer Klimakatastrophe gesprochen werden) entweder gar nicht existiere oder zumindest nicht von Menschen gemacht sei. Es ging hier also darum, sich von einer Unmündigkeit zu befreien, die nicht oder zumindest nur teilweise selbst verschuldet war.
Und ganz nebenbei: mit Religion oder Esoterik hat das überhaupt nichts zu tun, aber um so mehr damit, wie Wissenschaft und Medien sich für ökonomische Interessen missbrauchen lassen.