Dienstag, 1. November 2011

Unsere Gesellschaftsformen vor dem Exodus? (2)

In seiner Rede vom 20.09.2011 stellt Frank Bsirske klar, dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes zwingend erforderlich ist:


„Würden die Produktivitätsfortschritte gerechter verteilt und nicht einseitig den Kapitaleinkommen zugutekommen, könnten steigende Aufwendungen für die Rentenversicherung auch ohne Kürzungen des Rentenniveaus finanziert werden. Das freilich setzt neben einer gerechten Einkommensverteilung den Abbau prekärer Beschäftigungsverhältnisse voraus.

Und, keine Frage: Der Abbau prekärer Beschäftigungsverhältnisse hat große Bedeutung, auch für die jungen Menschen in unserem Land. Es geht dabei um unsere Kinder. Wir erfahren es ja tagtäglich: Junge Menschen sind nicht nur häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen als die Gesamtbevölkerung, sie sind auch öfter in atypischen Beschäftigungsverhältnissen tätig – mit befristeten Arbeitsverträgen, Teilzeitarbeit bis zu 20 Stunden, in geringfügiger Beschäftigung sowie Leiharbeit. Fast 37 Prozent der jungen Erwerbstätigen arbeiten unter solchen Bedingungen, oft für lausige Bezahlung. Ihre Lohnarmut heute ist die Altersarmut von morgen.  Deshalb muss gehandelt werden.

Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns, beginnend bei 8,50 Euro und dann ziemlich flott aufsteigend in Richtung 10 Euro,  gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit, egal ob Stamm- oder Leiharbeit, von der ersten Stunde an, bei gleichzeitiger restriktiver Regelung von Werkverträgen und Scheinselbstständigkeit,  ein gesetzliches Verbot des Einsatzes von Leiharbeitern als Streikbrecher, so wie das in Großbritannien zurzeit besteht,  die Beseitigung der Möglichkeit zur sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverhältnissen:  

Das alles, Kolleginnen und Kollegen, wollen wir in den Wahlprogrammen der Parteien finden und in der Koalitionsvereinbarung einer neuen Bundesregierung. Das liegt im Interesse der jungen Menschen wie im Interesse aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das werden wir an die Parteien herantragen. Daran werden wir sie messen, liebe Kolleginnen und Kollegen.“

Und daran, ob sie bereit sind, einen wirklichen Richtungswechsel in der Politik zu vollziehen 
  • zugunsten einer Umverteilungspolitik von oben nach unten, die den Sozialstaat wieder handlungsfähiger macht,
  • in der Bildungspolitik, vom Krippenangebot bis zur beruflichen Weiterbildung,
  • bei der Gemeindefinanzierung,
  • in der Infrastruktur-
  • wie auch in der Umweltpolitik.

Hier entscheidet sich in hohem Maße, in was für einer Gesellschaft wir künftig leben werden, Kolleginnen und Kollegen."

Aktuelle Themen, wie Umwelt- und Atompolitik,  den Dienstleistungssektor und den viel diskutierten Fachkräftemangel lässt der Redner Bsirske nicht aus. Steigen wir beim Thema Chancengleichheit wieder in die Rede ein:

"Wenn wir uns mit ver.di für Chancengleichheit engagieren, geht es uns längst nicht nur um mehr Frauen in Vorständen und Aufsichtsräten. Das auch, aber eben bei weitem nicht nur.

Nach wie vor gibt es einen Lohnabstand von im Durchschnitt 23 Prozent, und nach wie vor sind Frauen neben Jugendlichen von unsicheren Arbeitsverhältnissen besonders stark betroffen.



Frauen sind immer noch doppelt belastet mit Beruf und Familie, und zwei Drittel von ihnen sind, auf sich allein gestellt, von Altersarmut betroffen oder bedroht. Nach wie vor hat Lohnarmut ein Geschlecht, und das ist weiblich. Das wollen wir nicht länger hinnehmen, Kolleginnen und Kollegen.  

Wir wollen Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern.



Dafür streiten wir, ob es ums Steuerrecht, die Familienpolitik oder um die Arbeitswelt geht. Wir streiten für gute Arbeit und für ein gutes Leben. Beides hat viele Facetten. Beides wird uns nicht geschenkt, wir müssen es erkämpfen. Und das geht besser, wenn wir es zusammen tun, Kolleginnen und Kollegen.  



Zusammen in einer Gewerkschaft, in der die Frauen die Hälfte des Himmels sind und erkannt haben: Eine starke Gewerkschaft im Dienstleistungsbereich, die gibt es nur mit Frauen, mit Euch, Kolleginnen und durch Euch. So sehen wir das in ver.di und so machen wir das in ver.di."

Auch dürfen Arbeitnehmerrechte nicht eingeschränkt und insbesondere das Recht auf Streik nicht behindert werden. Hier ein aktuelles Beispiel aus dem kirchlichen Bereich:



„Miteinander gehen wir auch daran, die vordemokratischen Zustände im Bereich der kirchlichen Wirtschaftsunternehmen zu überwinden. 1,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern darf nicht länger das Recht abgesprochen werden, Tarifverträge abzuschließen und dafür, wenn nötig, auch streiken zu können.  Genau das tun die Kirchen aber. Sie tun so, als könnten sie souverän darüber entscheiden, ob und in welchem Maße Gesetze und verfassungsrechtlich verbürgte Grundrechte für die bei ihnen Beschäftigten gelten oder nicht.



Mir wurde dieser Tage hier in Leipzig ein Papier auf den Tisch gelegt. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern wendet seit Neuestem einen Mustervertrag für Arbeitsverträge an, der vorsieht, dass das Streikverbot in jeden einzelnen Arbeitsvertrag individuell aufgenommen werden soll.   Die Bestimmung ist für eine Arbeitnehmerin rechtlich natürlich nicht bindend. Es ist aber eine wirklich hinterhältige Passage, weil ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin dies in der Regel nicht erkennen kann und meinen muss, dass er beziehungsweise sie sich arbeitsvertraglich verpflichtet hat, auf Streik zu verzichten, und dass Streik in kirchlichen Einrichtungen verboten ist.



Ich finde, dieser Vorgang zeigt, Kolleginnen und Kollegen, dass sich die kirchlichen Arbeitgeber in der Defensive befinden, das auch so sehen und dabei vor unlauteren Mitteln nicht zurückschrecken. Sie bluffen ihre Arbeitnehmer mit dem Ziel, das Grundrecht auf Streik auszuhebeln, und das wollen, das werden und das können wir nicht hinnehmen, Kolleginnen und Kollegen.  



„Gott kann man nicht bestreiken" sagen Kirchenvertreter. Gott kann man nicht bestreiken? – Kolleginnen und Kollegen, das wird ernsthaft niemand bestreiten wollen.  Aber darum geht es bei der Frage um das Streikrecht auch gar nicht. Es geht nicht um das Verhältnis zu Gott, sondern um die arbeits- und verfassungsrechtliche Auslegung des Arbeitsverhältnisses kirchlich-diakonischer Mitarbeiter.“

Der Druck auf die Beschäftigten (insgesamt) ist gewachsen und wirkt sich auf deren physischen und psychischen Zustand aus:


„In vielen Betrieben und Verwaltungen sind die Beschäftigten seit vielen Jahren mit einer permanenten Restrukturierung der Arbeitsabläufe konfrontiert: mit Verlagerungen und Stilllegungen, mit Outsourcing und ständigen Kostensenkungsprogrammen, mit zunehmend prekärer Beschäftigung und ständiger Arbeitsverdichtung.

Ihr habt gehört, dass ich heute Morgen bei Amazon war. Ich muss sagen, ich habe schon einiges erlebt, aber einen Arbeitgeber, der wegen zweimaliger Inaktivität innerhalb von fünf Minuten abmahnt,  habe ich noch nicht erlebt. Das spricht Bände über den Leistungsdruck, der da herrscht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist extrem, aber es ist gleichzeitig ein Trend, eine Tendenz hin zu immer größerer Arbeitsverdichtung.“



und



„Es ist in vielen Betrieben zu beobachten, dass die Beschäftigten die Leistungsgrenzen erreichen, ja sogar überschreiten: Burnout, Depressionen, psychische Erkrankungen, Erkrankungen des Kreislaufsystems, Muskel- und Skeletterkrankungen sind die Folge.

Die Zahl psychischer Erkrankungen ist bei Arbeitnehmern in Deutschland im vorigen Jahr so stark gestiegen wie noch nie. Psychische Krankheiten machen mittlerweile ein Achtel des gesamten Krankenstandes aus. Diese Diagnosen spielen laut Deutscher Angestellten-Krankenkasse heute eine doppelt so große Rolle wie noch 1998.“



„Wir müssen also die Leistungsbedingungen und Gesundheit zu einem zentralen Bestandteil gewerkschaftlicher Arbeit im Betrieb machen, und dies gilt auch und grade im Angestelltenbereich, wo die gesundheitlichen Belastungen und insbesondere die psychischen Erkrankungen massiv zunehmen.

Wir müssen dabei ganz bewusst darauf setzen, Betroffene zu Beteiligten zu machen. Unter den heutigen Bedingungen kommt den einzelnen Beschäftigten für die gewerkschaftliche Interessenvertretung eine größere Bedeutung zu als jemals zuvor. Denn wenn Beschäftigte unter dem Druck des Wettbewerbs auf ihnen zustehende Rechte verzichten, läuft die Interessenvertretung durch Betriebsrat und Gewerkschaft ins Leere."

Gute Arbeit


„Nicht für, sondern mit den Kolleginnen und Kollegen zu handeln, und das sehr eng bezogen auf ihre alltäglichen Erfahrungen in der Arbeit, eng angelehnt an die alltäglichen Auseinandersetzungen um Leistung und Entgelt, Belastungen und Gesundheit, Arbeitszeit und Lebenszeit – darum geht es. Es geht um eine Arbeitspolitik von unten, Kolleginnen und Kollegen.



Mit dem DGB-Index Gute Arbeit rücken wir die Bewertung der Arbeitsqualität durch die Beschäftigten selbst in den Mittelpunkt und machen diese, ihre Bewertung, zum Ausgangspunkt gemeinsamen Handelns im Betrieb. Der DGB-Index Gute Arbeit ist ein guter Hebel, um die Beschäftigten zu sensibilisieren und zu aktivieren. Wo er eingesetzt wird, müssen den Daten dann freilich auch Taten folgen. Das systematisch zu verbreitern, wollen wir uns in den kommenden Jahren verstärkt zur Aufgabe machen.



Die Auseinandersetzung um Gute Arbeit im Sinne einer Arbeitspolitik von unten verknüpft ganz bewusst, liebe Kolleginnen und Kollegen, Elemente der demokratischen Beteiligung am Arbeitsplatz mit Konzepten guter Arbeitsgestaltung."

Zum Schluss seiner Rede fasst Frank Bsirske den Aufgabenkatalog für uns und unsere Gewerkschaft zusammen:



  • "Gegen die Ökonomie der Maßlosigkeit stellen wir unsere Forderung nach einer sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Entwicklung.

  • Gegen die Unterwerfung unter das Diktat der Finanzmärkte, gegen die schamlosen Angriffe auf die sozialen Rechte der Menschen stellen wir unser Engagement für ein demokratisches, sozialstaatlich verfasstes friedliches Europa.

  • Gegen die Demontage des Sozialstaats, gegen die Entsicherung der Gesellschaft und gegen die Privatisierung des Öffentlichen setzen wir uns für die Rückgewinnung des Sozialen ein.

  • Gegen Armutslöhne, gegen die Erosion des Tarifsystems kämpfen wir für Löhne, von denen man anständig leben kann, für Chancengleichheit und für Gute Arbeit.



Das alles, Kolleginnen und Kollegen, gehört zu einer Gesellschaft, wie wir sie uns vorstellen, einer Gesellschaft, in der wir leben wollen.  



Für diese Ziele haben wir uns zusammengeschlossen und werben wir um Mitglieder, die mitmachen, um Kolleginnen und Kollegen, die mit ver.di ihre Interessen selbst-bewusst vertreten. 
Mit ver.di. – unserer Gewerkschaft! 
Sie wollen wir stark machen. Und dazu möchte ich nach Kräften beitragen. Zusammen mit Euch! Vereint für Gerechtigkeit!


Ich bedanke mich für Eure Aufmerksamkeit, Kolleginnen und Kollegen."


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