Freitag, 31. Dezember 2010

Die kleine Sprachkritik (2)

Werte Leserin, werter Leser!

Wann haben Sie das letzte mal Ihrer alten Großmutter oder Ihrem kleinen Neffen einen Brief geschrieben?
Ich meine hier nicht die sekundenschnelle elektronische Post, sondern einen tatsächlichen Brief auf Papier, mit der Hand geschrieben und vom Briefträger persönlich zugestellt.

Anlaß für meine Frage ist eine schon etwas zurückliegende Meldung der Deutschen Post AG, wonach das zahlenmäßige Aufkommen dieser althergebrachten Briefform beständig zurückgehe. Wir wollen uns daher heute nicht so sehr mit der Sprache selbst, sondern mit deren materiellem Medium befassen.

Warum also werden immer weniger Briefe geschrieben und welche Konsequenzen hat dies?



Zweifellos ist die Schnelligkeit der Elektro-Post einer der Hauptgründe ihres Siegeszuges. Und zwar nicht nur die Schnelligkeit der Zustellung, sondern auch die vermeintliche Schnelligkeit bereits beim Verfertigen:
Punkt, Punkt, Komma, Strich - fertig ist das E-Mail-Gesicht.

Wir geben einem reaktionären Herrenreiter wie Martin Mosebach, der groteskerweise 2007 den nach dem Sozialrevolutionär Georg Büchner benannten Preis erhalten hat, nur ungern Recht, wenn er von einer Häresie der Formlosigkeit spricht. Aber die Schnelligkeit des Schreibens führt zu einer Verwahrlosung der schriftlichen Form:  kein Ort, kein Datum, keine korrekte Anrede mehr.


Inhaltlich findet eine zunehmende Verwahrlosung statt, weil vor dem Schreiben zumeist kein Durchdenken des zu Schreibenden stattfindet, sondern alles sofort über die Tastatur (in die zur Freude der Mitmenschen im Stakkatostil gehämmert wird) in den Rechner fließt und als Text sofort aus dem Monitor leuchtet.

Ein besonderes Genre scheint der vorläufige Höhepunkt dieser unheilvollen Entwicklung zu sein:
die Myriaden von Blogs, die mittlerweile im WWW zu lesen sind. Jeder glaubt jedem von seinem ach so spannenden Leben in Form einer digitalen Daily Soap Bericht erstatten zu müssen. Der sprachmedizinische Fachterminus dafür lautet: Logorhoe.

Liebe Wortdurchfaller und Wortdurchfallerinnen! Ich bin wahrlich kein Maschinenstürmer, aber wie wäre es, wenn ihr einfach mal den Rechner ausschaltet, Eure Umwelt nicht mit Euren Fisimatenten behelligt, an die frische Luft rausgeht und einfach Euer Leben lebt - ohne alles gleich abzuphotographieren, zu kommentieren und weltweit in Umlauf zu bringen? So wichtig & interessant seid Ihr nicht!

Nun mag sich die geneigte Leserin, der geneigte Leser fragen, warum ausgerechnet der Autor eines Infoblogs sich dieses Urteil anmaßt. Die Antwort ist zweigeteilt: Zum einen erscheint diese Kolumne innerhalb von vier Monaten nun erst zum zweiten Mal. Ein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis, wie dies manche Vielschreiber besitzen, denen man eigens einen eigenen Blog einrichten mußte, wird man dem Verfasser dieser Zeilen kaum unterstellen können.

Zweitens: zur Befriedigung etwaiger Eitelkeiten prangt auch nicht der Autorenname über diesem Artikel.
Aber da man diese Geste der Demut als feiges Verstecken hinter der Maske der Anonymität auslegen könnte, wird am Ende dieses Beitrags der volle Vor- und Zuname des Verfassers stehen.

Mosebach meinte mit seinem Verdikt von der Häresie der Formlosigkeit natürlich nicht den Verfall der Briefkultur, sondern wollte seiner Sympathie für den von traditionalistisch-ultrarechten Kreisen der katholischen Kirche bevorzugten tridentinischen Ritus (die Messe wird auf Latein zelebriert, der Priester steht mit dem Rücken zu den Gläubigen) Ausdruck verleihen. Einige Aspekte dieser Kirche der Dunkelmänner kann man dem bis vor kurzem noch auf dem digitalen Index stehenden Buch von David Berger entnehmen.

Es gehört zwar nicht direkt zum heutigen Thema, soll aber für´s Protokoll einmal festgehalten werden:
wenn hier vom Autor Formlosigkeit beklagt wird, dann heißt das noch lange nicht, daß dafür der Inhalt geopfert wird. Wenn man glaubt, daß Mosebach durchaus konsequent die reaktionäre Form für den reaktionären Inhalt einfordert - dann sollte man vielleicht  bedenken, daß er letztendlich den religiösen Inhalt - die Frohe Botschaft - dem ästhetizistischen Genuß der Ritualformen unterordnet.
Der Herrenreiter als Connaisseur ist in Wahrheit ein Atheist.

Zurück zum Thema.
Treffen wir die notwendigen Vorbereitungen, um einen Brief zu schreiben.

Dem kanadischen Medientheoretiker Marshall McLuhan zufolge ist das Medium bereits die Botschaft.
Besorgen wir uns also gutes Briefpapier, vielleicht aus einer bekannten Papiermühle.
Das ist - zugegeben - eine vereinfachte Darstellung der Theorie McLuhans.

Das Schreibzeug, so der Philosoph Friedrich Nietzsche, arbeitet an unseren Gedanken mit.
Besorgen wir uns also einen guten Füllfederhalter, vielleicht aus britischer oder französischer Provenienz.
Das ist - zugegeben - eine vereinfachte Wiedergabe des Nietzscheschen Aphorismus.

Wenn Sie nicht nur Ihrer alten Großmutter, sondern auch Ihrem kleinen Neffen einen Brief schreiben, legen Sie ihm vielleicht auch noch ein Buch bei. Zum Beispiel den Brief für den König von Tonke Dragt. Dieses Buch kann Ihrem kleinen Neffen die Bedeutung eines Briefes aufzeigen und auch den Beweis für Kafkas Vermutung erbringen, wonach Kinder im Spiel niemals die Könige, sondern immer nur die Kuriere sein wollen.

Wir hatten zu Beginn darauf hingewiesen, daß der Verfall der Briefkultur mit einer quantitativen Ausweitung der elektronisch erzeugten Mitteilungen einhergeht, die bald niemand mehr vollständig lesen könne. Der Medientheoretiker Friedrich Kittler sprach angesichts dieses apokalyptischen Zukunftsgemäldes von einer zu erwartenden automatischen Diskursanalyse, die allein  noch diese Aufgabe zu bewältigen imstande sei.

Man braucht dann nur noch einen kleinen Schritt weitergehen und das Entstehen maschinellen Bewußtseins ins Kalkül ziehen. Das wäre die Herrschaft der Maschinen und das Ende der Menschheit.

Werte Leserin, werter Leser!

Sie sehen also, daß Ihr Brief an die alte Großmutter oder an Ihren kleinen Neffen das Schicksal der Erde bestimmen könnte.


Zögern Sie also nicht!

"Und jetzt auf an den Schreibtisch!" (Franz Kafka)

Und zuvor verrate ich Ihnen noch wie versprochen meinen vollen Namen:

Vorname: Nomen
Nachname: Nescio

1 Kommentar:

  1. Ein interessanter Artikel.
    Aber ich gebe zu, auch ich schreibe gerne: :-)

    Ich kann nur bestätigen, dass bei den vielen Emails, die ich erhalte, nur der geringste Teil mit Anrede versehen ist.
    Darüber ärgere ich mich oft, da es diesen Mails an einer gewissen Höflichkeit mangelt.

    Ich lese gerne Briefe, aber ich denke auch, dass E-Mails in der heutigen Zeit einfach nicht mehr wegzudenken sind.

    Wie wäre es einfach ab und zu einen Brief zu schreiben?

    Es geht doch nichts über die Ausdruckskraft der Handschrift

    "Das Ziel des Schreibens ist es, andere sehen zu machen " (Joseph Conrad)

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