Montag, 16. August 2021

Climate turn, labour turn

Eine Auswertung zur Kampagne TV-N 2020 von Fridays for Future und ver.di für eine ökologische Klassenpolitik

 Vom Autor*innen-Kollektiv "climate.labour.turn"

 


 

Die Kampagne TV-N 2020 von FFF und Verdi als Exempel für ökologische Klassenpolitik«, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Darin schildern Klimaaktive ihre Erfahrungen aus den bundesweiten Tarifkämpfen der Beschäftigten im Nahverkehr. Wir dokumentieren hier Auszüge aus der Broschüre.

"Als Sozialistinnen und Sozialisten sind wir der Überzeugung, dass die Appelle an die Eliten ökologischen Klassenkämpfen weichen und wir als Fridays for Future (FFF) anstelle von ökologischen Endverbrauchersteuern eigentlich ökologische Produzenten-, Vermögens- und Reichensteuern fordern sollten, um den Umbau unserer Gesellschaft sozial gerecht zu gestalten. Schließlich gehen wir davon aus, dass wir der Naturzerstörung nur ein Ende setzen können, wenn wir auch den Kapitalismus überwinden.

Betrachten wir die Abgeordnetengespräche und das Festhalten an einer reformerischen Lösung für die Klimakrise: Wieso sind so viele junge Menschen von der Idee angetan, Politikerinnen und Politiker anzurufen und sie dazu zu drängen, für die klimafreundlichste Reform zu stimmen? Weltanschaulich wird vermittelt, dass sich das ganze System verändern soll und kann, und zwar indem Politiker grünere, sozialere, letztlich vernünftigere Entscheidungen treffen. Dies entspricht der hegemonialen, parlamentarischen Idee von Weltveränderung. Die Praxisform wiederum ist eine des drängenden Gesprächs oder des friedlichen Protests. Die hegemoniale Stellung der Diskursverschiebung auch innerhalb der linken Bewegungen spiegelt sich hier wider. Schließlich stammen die verbündeten Menschen oftmals der sogenannten Mittelschicht an: Berufspolitiker, NGO-Mitarbeiter, die Eltern, Lehrer ebenso wie die FFFler.¹

Die Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaft und sozialer Bewegung in mehr als 30 Städten ist deshalb zustande gekommen, weil auch wir ein Projekt vorgeschlagen haben, das nicht an der hegemonialen Weltanschauung und Vorstellung von Weltveränderung festhält, sondern eine transformatorische, ökosozialistische Strategie vorschlägt.

Grenzenlose Kapitalakkumulation

Laut einer Studie des Weltklimarats aus dem Jahr 2018 ist das sogenannte 1,5-Grad-Ziel nur zu erreichen, wenn unsere Wirtschaftssysteme bis 2050 vollständig dekarbonisiert sind. Was diese Umstellung für unsere Gesellschaften bedeutet, bringt Klaus Dörre auf den Punkt, wenn er schreibt, dass die Realisierung dieses Ziels »gleichbedeutend mit Veränderungen (ist), die in ihrem historischen Ausmaß mit jenen der ersten industriellen Revolution vergleichbar sind«.²

Dass es nicht reicht, dabei allein auf die ökologische Vernunft von Politikern zu setzen, zeigt die Entwicklung der CO2-Emissionen in den vergangenen 40 Jahren. Trotz des kontinuierlichen Bedeutungsgewinns der Debatte um den Klimawandel sowohl im wissenschaftlichen als auch im berufspolitischen und zivilgesellschaftlichen Feld haben sich die klimaschädlichen Emissionen zwischen 1980 und 2016 weltweit nicht etwa verringert, sondern verdoppelt.³ Grund dafür ist der dem Kapitalismus inhärente, systematische Expansionszwang: »Das grundlegende Strukturprinzip im Kapitalismus ist nicht das Wachstum des Bruttoinlandprodukts, sondern die Vermehrung des Kapitals: G-W-G’. Geld wird in Waren verwandelt, um (mit Hilfe der Ware Arbeitskraft) am Ende eine größere Geldmenge zu erhalten, die wiederum reinvestiert werden kann. Das Faszinierende, aber auch Dramatische an diesem Prinzip ist, dass es alle Schranken niederreißt. Auf der Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten nimmt das Kapital alle geographischen Räume und gesellschaftlichen Lebensbereiche in Besitz.«⁴

Die Konkurrenz und der Drang zur Kapitalakkumulation, die dem System immanent sind und dazu führen, dass sowohl die Natur als auch die Lohnabhängigen systematisch ausgebeutet werden, ist blind gegenüber stofflichen Qualitäten, das hat die Geschichte des Kapitalismus bewiesen. Oder, um es in den Worten des Soziologen John Bellamy Foster zu sagen: »Angesicht der lokalen Operationen des Kapitals und seiner kurzfristigen Kapitalfokussierung, die jegliche ernsthafte Rücksichtnahme auf die Umwelt ausschließt, sind innerhalb der Funktionsweise des Kapitals keinerlei Mittel vorgesehen, um den Ruin der Ökosysteme kurz vor dem globalen Zusammenbruch zu stoppen.«⁵

Selbst wenn es innerhalb des Kapitalismus teilweise gelingen sollte, die Produktion Richtung mehr Nachhaltigkeit zu verändern, wie es manche Entscheidungsträger anstreben, um das kapitalistische System zu erhalten, sollten wir uns bewusst sein, welche sozialen Folgen uns erwarten: Solange nicht ökologische und soziale, sondern maßgeblich konkurrenzgetriebene Prinzipien die Grundlage für gesellschaftlich relevante Entscheidungen bleiben, wird der Kampf um das gesellschaftliche Mehrprodukt nicht verschwinden, sondern sich verschärfen. Ob der Umbau der Produktion auf Kosten der Lohnabhängigen oder der Vermögenden geht, bleibt eine Frage der Kräfteverhältnisse, die nur durch organisierte Lohnabhängige und starke soziale Bewegungen in Richtung Gemeinwohl verschoben werden können.

 

 System Change, not Climate Change! – Systemwandel statt Klimawandel

 

Streik als Waffe

Wirtschaftliche Macht geht einher mit politischer Macht. Das zeigt sich beispielsweise, wenn der Energiekonzern RWE dafür sorgen kann, dass Räumungen und Rodungen durchgeführt werden, weil der Wald Eigentum des Konzerns ist.

Allerdings gibt es durchaus eine Möglichkeit, diese Machtasymmetrie punktuell zu verschieben. Denn es sind zwar die Leitungen der Konzerne, die darüber entscheiden, was zu welchem Zweck produziert wird. Aber es sind die Lohnabhängigen, die die konkrete Arbeit leisten, etwa die Aneignung der Natur oder die Aufrechterhaltung des öffentlichen Nahverkehrs. Damit haben sie auch eine starke Waffe in ihrer Hand, um die zerstörerischen Verhältnisse zu beenden: den Streik. Der Streik durchbricht den Akkumulationsprozess und trägt gleichzeitig zur politischen Vereinigung derjenigen bei, die zwar allein kaum, gemeinsam aber eine gewaltige Macht besitzen.

Die stärksten Machtressourcen gewinnt die Klimabewegung also hinzu, wenn sie sich mit den Gewerkschaften als denjenigen Organisationen verbindet, in denen sich die Interessen der Lohnabhängigen bündeln können. Die Frage, wer die finanziellen Lasten eines ökologischen Umbaus trägt, wird ohnehin zu heftigen Verteilungskonflikten führen. Wir stehen vor der Herausforderung, die Vermögenden dazu zu bringen, für die Kosten der Transformation aufzukommen.

 

Lähmen oder bestärken

Gewerkschaften und Klimabewegung können sich gegenseitig lähmen oder bestärken. Die Lähmung – so zeigen zum Beispiel die Erfahrungen im Rahmen der Proteste von »Ende Gelände« in der Lausitz – entspricht dem derzeitigen Status quo. Doch können aus der Verbindung von ökonomischer und politischer Macht der beiden Bewegungen Kämpfe um nachhaltige Jobs und für Investitionen in nachhaltige Infrastrukturprojekte hervorgehen.

Während große Teile von Fridays for Future hoffen, Unternehmenseigentümer sowie Politikerinnen und Politiker auf ihre Seite ziehen zu können, anstatt systematisch Gegenmacht gegen die Fixierung auf die Kapitalvermehrung aufzubauen, zieht »Ende Gelände« als radikale Minderheit in die Lausitz und benennt zwar die Ausbeutung von Menschen und Natur durch große Konzerne, macht sich aber mit Slogans wie »Es gibt kein Recht auf Kohlebaggerfahren« insbesondere bei denen, die von ihrem Lohn als Arbeiterinnen und Arbeiter in dieser Branche abhängig sind, äußerst unbeliebt. Auch wenn es auf Gewerkschaftsseite bereits ein gewisser Fortschritt zu sein scheint, wenn die IG Metall ihre Mitglieder zur Teilnahme am Klimaaktionstag ermuntert, ist man dort von einer eigenen sozialökologischen Konversionsstrategie noch weit entfernt.⁶

 

Labour turn und Climate turn

Mit dem, was wir haben, das zu schaffen, was wir brauchen, um dem ökosozialistischen Traum einen Schritt näher zu kommen, bedeutet für uns also nicht, resigniert festzustellen, dass sich die Verwirklichung der Interessen der Beschäftigten in dieser Branche und der ökologische Umbau der Gesellschaft schlichtweg wechselseitig ausschließen. Die Causa Lausitz motiviert uns dazu, einen Labour turn⁷ (Wendung zur Arbeit) in der Klimabewegung anzustoßen, der Arbeitsplatzsicherheit und gesellschaftliche Anerkennung der Beschäftigteninteressen von Beginn an als zentrale Bestandteile in die ökologischen Kämpfe einbezieht.

Zugleich verdeutlicht das Lausitz-Beispiel aber auch die Notwendigkeit eines Climate turn (Wendung zum Klima) der Gewerkschaften. Die Wut vieler Klimaaktiver auf die sozialpartnerschaftlich ausgerichtete Führung der IG BCE oder einer IG Metall, die sich vornehmlich durch einen »Komanagementkurs« auszeichnet und dabei ökologische Notwendigkeiten außer acht lässt, ist aus unserer Sicht gerechtfertigt.

 

Als Beispiel und Hoffnung dienen uns hierbei Allianzen, die bereits erfolgreich geschmiedet wurden. Oliver Pye verweist hierbei auf Südafrika: »(…) in der heutigen Bewegung für Klimagerechtigkeit entstehen Möglichkeiten für eine Reorientierung auf die Arbeiterbewegung. In Südafrika hat die Kampagne ›One Million Climate Jobs‹ eine erfolgreiche Allianz zwischen Teilen der Arbeiterbewegung und der Klimagerechtigkeitsbewegung ermöglicht. Forderungen nach öffentlich finanzierten Jobs im Bereich erneuerbare Energien oder öffentliche Verkehrssysteme werden gegen eine Agenda der grünen Modernisierung formuliert und mit Energiedemokratie und Ernährungssouveränität verknüpft.«⁸

Gemeinsam mit Fahrerinnen und Fahrern aus dem ÖPNV lässt sich für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs kämpfen, mit Arbeiterinnen und Arbeitern aus der Ernährungsbranche für sozial und ökologisch nachhaltigere Arbeits- und Produktionsbedingungen. Die Kampagne TV-N 2020 war ein Versuch, die Annäherung zwischen Gewerkschafts- und Klimabewegung voran­zutreiben.

Im Herbst 2020 wird wie unter einem Brennglas sicht- und spürbar, welche Art von Mobilitätspolitik in der Bundesrepublik verfolgt wird: Während sich Politikerinnen und Politiker aller Couleur als Fridays-for-Future-Fans in Szene setzen und die Notwendigkeit der Nachhaltigkeitswende beteuern, wird in Hessen unter einer schwarz-grünen Landesregierung der Dannenröder Wald – ein Wasserschutzgebiet, das rund eine halbe Million Menschen mit Trinkwasser versorgt – für den Ausbau der Autobahn 49 gerodet. 1,4 Milliarden Euro soll der letzte Teil der Autobahn kosten. Zugleich fehlen die Gelder, um für die Beschäftigten im ÖPNV einheitliche, erträgliche Arbeitsbedingungen zu schaffen. Diese Geschehnisse entsprechen der autofixierten Mobilitätspolitik der vergangenen Jahrzehnte.

 

 

 

Privilegierte Autoindustrie

Nicht (allein) die leidenschaftliche Bindung der Menschen an ihre Autos, sondern vor allem eine konsequent auf die Interessen der Autoindustrie ausgerichtete Politik ist für die Privilegierung des Autos gegenüber nachhaltigen Mobilitätskonzepten zur Verantwortung zu ziehen. So wird in Deutschland im Verkehrsrecht und in der Infrastrukturpolitik der Straßenverkehr überdeutlich gegenüber dem Schienenverkehr begünstigt. Die formelle Privatisierung der Deutschen Bahn und ihre Unterfinanzierung haben zum schlechten Zustand des Schienennetzes, zur schlechten Personalausstattung und zu den hohen Preisen geführt. Der Automobilsektor wird als wichtigster Wirtschaftsfaktor in Deutschland politisch mit allen Mitteln unterstützt – sei es durch Subventionen oder die Deckung von Verbrechen wie dem Dieselskandal oder sei es durch die Förderung von E-Autos, die aus ökologischer Perspektive keine maßgebliche Verbesserung gegenüber dem Verbrennungsmotor darstellen. Alles auf Kosten des öffentlichen Verkehrs.

Offensiv politisch hatte sich der Verdi-Fachbereich Verkehr bereits 2019 mit einer Erklärung für eine allumfassende Verkehrswende positioniert. Die »Kasseler Erklärung der Verdi-Bundesfachgruppe Busse und Bahnen zu Klimaschutz und Arbeitsbedingungen« beinhaltet fünf Kernforderungen: (1) den umfassenden Ausbau des ÖPNV in allen Städten und im ländlichen Raum unter (2) Sicherstellung von Energieeffizienz und Emissionsfreiheit, (3) bezahlbare Mobilität für alle, nicht auf Kosten von prekären Arbeitsverhältnissen, (4) eine größere finanzielle Beteiligung von Bund und Ländern sowie Erschließung alternativer Finanzierungsmöglichkeiten wie Unternehmensabgaben sowie (5) eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen im ÖPNV.⁹

Den Ansprüchen der Kassler Erklärung entsprechend, hat Verdi in den vergangenen Jahren an einer politischen Offensive gearbeitet, um den öffentlichen Nahverkehr auf eine vollkommen neue Grundlage zu stellen. Weil viele der Nahverkehrsunternehmen in öffentlicher Hand sind, finden die Tarifverhandlungen, die Verdi mit ihnen führt, eigentlich auf kommunaler Ebene statt – im Ergebnis hat jedes Land seinen eigenen Tarifvertrag. Damit aber genügend Zusammenhalt und Stärke aufgebaut und bundeseinheitliche, verbesserte Arbeitsbedingungen hergestellt werden können, hat Verdi bewusst alle Ländertarifverträge zum selben Zeitpunkt auslaufen lassen: Im Juni 2020 enden die bis dato geltenden Tarifverträge. Von nun an fordert Verdi für die rund 87.000 ÖPNV-Kolleginnen und -Kollegen, deren Arbeitsverhältnis im Spartentarifvertrag Nahverkehr (TV-N) geregelt ist, einen bundesweiten Rahmentarifvertrag.

Tarifpolitische Kerninhalte sind 30 Tage Urlaub, bezogen auf eine Fünftagewoche, und individuelle Entlastungstage, eine Verkürzung des Ausgleichszeitraums für Ãœberstunden auf 14 Tage und eine Vergütung der Arbeitszeit aufgrund von Fahrzeugverspätung ab der ersten Minute. Zudem strebt man Veränderungen in der Nachwuchsförderung und der Schichtdienstregelung der Fahrerinnen und Fahrer an.¹⁰ Die Umsetzung dieser grundlegenden Forderungen zu erreichen wäre im ÖPNV, einem Bereich, in dem die Beschäftigten derzeit hohen Belastungen bei verhältnismäßig geringer Bezahlung ausgesetzt sind, bereits ein bedeutender Fortschritt. Denn nach 20 Jahren Sparpolitik fehlen im ÖPNV heute 15.000 Beschäftigte. Bis zum Jahr 2030 werden gar 100.000 neue Beschäftigte benötigt, da jeder zweite bis dahin verrentet sein wird. Der Sektor weist darüber hinaus überdurchschnittliche Krankenstände auf, die auf die hohe Arbeitsbelastung des Personals zurückzuführen sind. In der Folge fallen in 60 Prozent der Unternehmen regelmäßig Fahrten aufgrund von Personalmangel aus.

 

Kämpfe verknüpfen

Noch vor dem Auftakt der Gespräche zwischen Verdi und den kommunalen Arbeitgebern verkünden Christine Behle (stellvertretende Verdi-Vorsitzende) und Helena Marshall (FFF) auf einer Pressekonferenz am 22. Juli 2020, im Rahmen der Tarifrunde einen gemeinsamen Kampf führen zu wollen. Marshall formuliert das Anliegen von FFF wie folgt: »Es geht hier letztendlich um viel mehr als einen Tarifstreit. In den Diskussionsrunden wird es darum gehen, wie wir die größten Probleme unserer Zeit angehen. Es geht um die Verknüpfung von Klimakrise und sozialen Problemen, und deswegen sitzen wir hier als Vertreterin einer Gewerkschaft und einer Klimabewegung und machen klar, wir müssen zusammen jetzt mehrere Herausforderungen auf einmal angehen.«

Parallel zu öffentlichen Auftritten von Vertreterinnen der Bewegungen werden in den kommenden Monaten drei bundesweite Aktionstage durchgeführt. Ziel ist es, mehr Beschäftigte für die aktive Einbringung in die Tarifauseinandersetzungen zu motivieren und die Streikbereitschaft zu erhöhen. Gleichzeitig geht es darum, die politische Debatte über den Zusammenhang zwischen Klimaschutz und Beschäftigteninteressen im Rahmen der Verkehrswende und die Notwendigkeit eines Ausbaus des ÖPNV sowohl unter ÖPNV-Beschäftigten und Klimaaktiven als auch in der Zivilgesellschaft anzuregen.

Nach dem ersten Gespräch zwischen Verdi und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) am 19. August 2020 zogen sich die Arbeitgeber zum großen Frust von Beschäftigten und Klimaaktiven mit der Ankündigung zurück, man wolle beraten, ob überhaupt Verhandlungen aufgenommen werden sollten. Einen Monat später lehnte die VKA die bundesweiten Verhandlungen mit Verdi ab. Als Reaktion darauf kündigte die Gewerkschaftsführung einen bundesweiten Warnstreik an, der am 29. September 2020 stattfand. An unzähligen Orten in Deutschland verließen Fridays-for-Future-Aktive teilweise vor Sonnenaufgang das Haus, um Seite an Seite mit den Kolleginnen und Kollegen am Streikposten zu stehen oder an Haltestellen ins Gespräch mit (frustrierten) Fahrgästen zu kommen. Da die Verhandlungen weiterhin ausblieben und die Coronainfektionszahlen dramatisch anstiegen, setzte Verdi ab November 2020 auf Warnstreiks in einzelnen Bundesländern und versuchte, die bundesweiten Forderungen in den länderspezifischen Tarifvereinbarungen durchzusetzen: »Wir halten an unserem gemeinsamen Weg fest. Die bundesweiten Forderungen bleiben weiterhin unser gemeinsames Ziel. Wir setzen unseren Schwerpunkt jetzt auf die Landesverhandlungen. In einigen Ländern haben wir schon erste Ergebnisse erzielt.«¹¹

 


 

Vorerst gescheitert

Das Vorhaben eines bundesweit einheitlichen Tarifvertrags TV-N ist vorerst gescheitert. Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände hat bis zum Schluss die Teilnahme an den Verhandlungen verweigert. Einige Länder haben sich bundesweiten Verhandlungen in den Weg gestellt, andere hätten es vorgezogen, einen überregionalen Tarifvertrag zu verabschieden. Überdies konnten die politischen Forderungen nach einer besseren Finanzierung und dem Ausbau des ÖPNV, für die sich FFF und anderen Bündnispartner gemeinsam starkmachen, noch nicht durchgesetzt werden. Die neuen Tarifverträge beinhalten jedoch deutliche Verbesserungen für die Beschäftigten.

Neben der Entgelterhöhung haben sich viele der bundesweiten Forderungen in den landesweiten Verträgen niedergeschlagen. Fast überall konnte die Forderung nach 30 Tagen Urlaub durchgesetzt werden. Auch eine Anrechnung der Ausbildungszeit bei der Eingruppierung und verbesserte Regelungen bezüglich der Schicht- und Entlastungstage wurden oftmals erreicht.

Die Ergebnisse sind natürlich vor allem auf die Streiktaktik, die Streikbereitschaft und die politischen Kräfteverhältnisse in den Ländern zurückzuführen. Allerdings hat die Solidarität der Klimabewegung laut den Kollegen viele positive Effekte auf die Tarifrunde gehabt.

Auch in der Gewerkschaftsbewegung besteht ein Interesse an einer engeren Zusammenarbeit mit Klimaaktiven. Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) hat das Gespräch mit der AG Gewerkschaftsdialog von FFF gesucht, um über eine gemeinsame Kampagnenplanung nachzudenken.

Die Erfahrungen im Zusammenhang mit der bundesweiten Kampagne TV-N 2020 haben bewiesen, dass es möglich ist, ökologische und gewerkschaftliche Anliegen miteinander zu verbinden. Es ist gelungen, Ansätze einer ökologischen Klassenpolitik zu entwickeln. Ökologische Klassenpolitik bedeutet für uns, gemeinsam mit gesellschaftlichen Mehrheiten für eine Demokratisierung und einen Nachhaltigkeitsumbau aller Gesellschaftsbereiche, inklusive der Produktion, zu kämpfen. Ziel muss es sein, dass nicht die grenzenlose Akkumulationsdynamik des Kapitals, die im Widerspruch zu den planetaren Grenzen steht, sondern demokratische und ökologische Prinzipien unser gesellschaftliches Miteinander bestimmen.

Wir denken, dass die Allianz von FFF und Verdi möglich wurde, da für uns nicht die Kritik der oberflächlichen Erscheinung beider Strukturen, sondern deren jeweiliges Potential im Vordergrund stand. Grundlage dafür ist eine Haltung, die darauf ausgerichtet ist, zu identifizieren, mit welchen Teilen der Gewerkschafts- und der Klimabewegung aufgrund welcher Anlässe und mittels welcher Methoden ökologische Klassenkämpfe geführt werden können. Nur wenn das Gemeinsame und nicht das Trennende im Vordergrund steht, kann der Grundstein für eine ökosozialistische Politik gelegt werden."

 

Anmerkungen

1 Einer Befragung des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (IPB) beim internationalen Klimastreik ab 15. März 2019 zufolge ordnen sich 43,6 Prozent der befragten Bremer und Berliner der oberen Mittelschicht und 26,8 Prozent der unteren Mittelschicht zu.

2 Klaus Dörre: Die Gewerkschaften – progressive Akteure einer Nachhaltigkeitsrevolution?, in: Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, 4/2019, S. 38–46

3 Vgl. ders.: »Lockdowns sind kein Klimaschutz, jacobin.de, 12.1.2021

4 Raul Zelik: »Grüner Sozialismus – Warum die Klimabewegung an den alten Debatten nicht vorbeikommen wird«, Luxemburg online 1/2021, www.zeitschrift-luxemburg.de/gruener-sozialismus/

5 John B. Foster/Brett Clark/Richard York: Der ökologische Bruch. Der Krieg des Kapitals gegen den Planeten, Hamburg 2011

6 Fanny Zeise: »Wir müssen reden! Aber weniger mit den Industriegewerkschaften als vielmehr mit ihren Mitgliedern«, in: Neues Deutschland, 27.7.2020

7 Oliver Pye: »Für einen Labour turn in der Umweltbewegung«, in: Prokla 189, S. 517–534

8 Ders., a. a. O., 531

9 Vgl. https://verkehr.verdi.de/themen/nachrichten/++co++6f8eff4a-91b3-11e9-9839-525400afa9cc.

10 Vgl. https://tvn2020.de

11 https://tvn2020.de/tvn2020-erste-bewegungen-der-­arbeitgeber/

 

 

Quelle:      https://www.rosalux.de/

1 Kommentar:

  1. Eine Streikaktion für mehr Urlaub ist eigentlich noch nicht ganz das, was ich mir unter einem Klassenkampf vorstelle. Da waren die Jungs und Mädchen 1918 schon anders drauf.
    Außerdem würde ich gern mal wissen, ob unsere Gewerkschaften tatsächlich bereit wären, gegen ein Rechtssystem, das ihnen politische Streiks verbietet, einen Systemwandel herbeistreiken zu wollen?
    Zur Erinnerung: es waren Schüler, die sich das getraut haben, nicht ihr!
    Und wahrscheinlich sind sie es auch gewesen, die zuerst kapiert haben, dass erst der Kapitalismus weg muss, ehe die Erderwärmung gestoppt werden kann.
    Ich finde es zwar O.K., dass ein paar von euch jetzt noch auf den Öko-Zug aufspringen wollen. Aber nach allen bisherigen Erfahrungen werden die meisten von euch es nicht schaffen.
    Was mir zum Beispiel fehlt, ist eine klare Aussage, dass unser Land mit einer roten Null, die eine schwarze Null verwaltet, an der Spitze weder eine ökologische noch eine ökonomische und gesellschaftliche Transformation bzw. Revolution hinkriegen wird.
    Denn dazu bräuchten wir staatliche Eingriffe in die Wirtschaft und staatliche Zukunftsinvestitionen - aber ganz gewiss keinen Nachtwächterstaat mit konstitutioneller Schuldenbremse.
    Aber für den Gedanken war bei aller sonstigen Ausführlichkeit wohl kein Platz mehr - das nächste mal vielleicht

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