Interview mit Hans-Peter Unger
Immer mehr Fehltage werden durch psychische Erkrankungen verursacht. Wie erklären Sie diesen Trend?
Man muss zwischen der rasanten Entwicklung der AU-Zahlen und der
tatsächlichen Prävalenz psychischer Krankheiten unterscheiden: Es gibt
heute nicht mehr psychisch kranke Menschen als vor zehn oder zwanzig
Jahren, sie werden aber besser diagnostiziert und weniger stigmatisiert.
Fakt ist, dass der Handlungs- und Behandlungsbedarf weiter steigt.
Epidemiologische Studien zeigen, dass rund 40 Prozent der Menschen in
Deutschland mindestens einmal im Leben an einer behandlungsbedürftigen
psychischen Krise erkranken. Viele Fälle bleiben also auch heute noch
unerkannt.
Warum werden psychische Erkrankungen in Ballungszentren häufiger diagnostiziert als im ländlichen Raum?
Der Stresspegel ist in Großstädten höher. Untersuchungen belegen, dass
Menschen, die auf dem Land aufwachsen, weniger auf Stress anspringen als
Städter. Außerdem ist in der städtischen Community das
Gesundheitsbewusstsein größer. Psychische Probleme werden deshalb
schneller als solche benannt und diagnostiziert. Nicht zuletzt
korreliert die Inanspruchnahme von Behandlungen auch mit der Dichte des
Angebots – und die ist in Städten naturgemäß höher als in ländlichen
Gegenden.
Sind psychische Erkrankungen heute salonfähiger als vor zehn Jahren?